Sonntag, 30. September 2018

Es zieht sich hin

3.9.14

Es zieht sich hin. Zusammenbrüche im Rollstuhl, anschliessend zerknirschtes Personal wechseln sich ab. 
Angst und Schmerzen sind nach wie vor ungenügend behandelte, ständige Begleiter. 

Irgendwie sind wir beide, Mutter und ich, je in andersartiger Gleichheit traumatisiert. 

Nachdem ich erneut mit aller Vehemenz und ärztlicher Unterstützung medikamentöse Schmerzfreiheit und Angstbehandlung durchgesetzt habe, und heute am Bett Zeuge davon wurde, welches Spiel meine Mutter mit mir und der Heimleiterin immer noch spielt, bin ich seelisch und körperlich komplett erschöpft. Meine Enttäuschung ist grenzenlos. Der Schmerz hat nur kurz mein Herz berührt, die Herzmauer ist wieder aufgerichtet.

Während ich, wie seit vielen Nächten gewohnt, am Bett die jeweils vor dem Einschafen einsetzende Angstphase von I. aushalte, wird mir klar, dass ich aus Selbstschutz wieder eine Besuchspause einschalten muss, egal, wie sich der Zustand meiner Mutter verändern wird. Ich muss in Kauf nehmen, dass I. allein stirbt (was eher ihrem Naturell entspricht, als ein Abgang “im Beisein der Familie“).

Unser Schweigen wird nur durch das gelegentliche Vorbeischauen der Nachtwache unterbrochen.

Gegen Mitternacht verabschiede ich mich von Mutter und sage ihr, dass ich am nächsten Tag nicht kommen werde. Sie nimmt es zur Kenntnis. Es scheint mir, als ob mir da etwas Trotz entgegen komme... was ich verstehen könnte, denn ich bin mir sicher, dass I. gespürt hat, dass ich sie durchschaut habe.

Den 4.9. halte ich reserviert für mich ganz allein. Ich sage alle Termine ab und gehe mit dem Junghund auf einen ausgedehnten Spaziergang.

Hier in der Natur mache ich eine Auslegung aller meiner Kümmernisse, Sorgen, Seelenschmerzen, Befürchtungen usw., lasse alle Gefühle zu. 
Die aufgestaute Wut, Hilflosigkeit und Enttäuschung sowie dieses zermürbende Gefühl des Nichtgenügenkönnens.

Schliesslich gelingt es mir, tief im Innern alles, wirklich alles zu verzeihen, was einem tiefen Frieden Platz macht. Befreit kehre ich heim, wo ich für ein paar Stunden in einen heilsamen Tiefschlaf sinke.

Ich beschliesse, morgen Freitag, 5.9., Mutter ein letztes Mal zu besuchen, mich von ihr zu verabschieden und ihr dabei auch alles zu sagen, was mir wichtig, heilsam und erlösend erscheint. Ich will mein ganzes therapeutisches Wissen und Können anwenden, um Mutter und mir einen friedvollen Abschied zu ermöglichen.

Endlich schmerzfrei!!

02.09.2014

Seit dem 18.08.2014 bekommt I. nun Morphium subkutan gespritzt. Der Arzt hat insgesamt 10 Ampullen innerhalb von 24 Std verordnet: 6 regulär und 4 in Reserve, wenn I. trotzdem Schmerzen hat. Dazu kommt noch das Mo-Pflaster am Dekubitus, welcher in dieser letalen Situation nicht mehr zuwachsen kann. 

Soweit so gut. Nur: Aus welchen unerfindlichen Gründen auch immer scheinen die Pflegenden grosse Angst davor zu haben, Morphium auch so zweckentsprechend grosszügig anzuwenden, wie es verordnet ist! 
So klagt Mutter bei jedem Besuch über Schmerzen, die kaum auszuhalten seien. Alle versichern, dass es “kein Problem“ sei, dass Mo in ausreichendem Mass verabreicht werden dürfe. Aber tun, will es offenbar keine. Oder sind vielleicht Mutters Aussagen widersprüchlich?

Am Freitag, 29.08., begleitet mich mein Freund G. zum Besuch. Irma freut sich sehr. Sie ist geistig präsent und klar im Denken. Bei unserem Eintreffen liegt sie komplett flach und klagt über starke Rückenschmerzen. Das anheben des Kopfteils in einen angenehmeren Winkel hilft ein Stück weit. Die Glocke hängt für I. unerreichbar hoch, mehrfach um den “Galgen“ gewickelt, wie dies zu Pflegehandlungen oft gemacht — und dann vergessen wird. 

Auf mein Läuten eilt rasch eine Pflegehelferin herbei. Sie erschrickt sichtlich ob meiner Frage, wie sie sich vorstelle, dass Mutter so läuten könne und beeilt sich in der Folge, die Pflegefachfrau mit Morphium zu rufen
Ich betone wiederum ausdrücklich, dass Mutter keine Schmerzen haben müsse, was von der Fachfrau bestätigt wird. Intervalle: alle 4 Stunden, bei Klagen über Schmerzen auch dazwischen.  
Ergo gibt es verschiedene Möglichkeiten: a) Die Pflegehelferinnen fragen nicht nach Schmerzen. b) Die Pflegehelferinnen interpretieren eigenmächtig die 4-Std.-Regel und leiten die Schmerzäusserungen nicht weiter. c) Die Pflegehelferinnen vergessen, die Schmerzäusserungen weiterzuleiten. Oder d) Es schaut nur alle 4 Std. jemand vorbei
Ich appelliere an die Barmherzigkeit und daran, im Auge zu behalten, wie man selbst in einer solchen Situation behandelt werden möchte.

Über das Wochenende muss ich teilweise arbeiten. Am Montagnachmittag, ich mache mich eben für die Fahrt zum Besuch bereit, ruft das Pflegeheim an und meldet, der Zustand von I. habe sich verändert, sie verweigere das Essen und spreche fast nicht mehr.

Bei meinem Eintreffen reagiert Mutter in der Tat kaum. Später ist sie wiede voll präsent und klagt über starke Schmerzen. Die FaGe erklärt, am 4-Std.-Intervall habe sich nichts geändert. Am Telefon erklärt mir T., meine Stiefschwester, dass I. am Samstag erklärt habe, sie möge nicht mehr und die Schmerzen seien kaum auszuhalten. 
Im Gespräch bestätigt die Stv.-Pflegedienstleiterin, dass das Mo-Rezept ausreichen sollte, um Mutter Schmerzfreiheit zu ermöglichen. Darauhin wird der Intervall verkürzt (was ja schon so oft versprochen und nicht eingehalten wurde). 

In den fünf Stunden, die ich an Mutters Bett verbringe, werde ich nicht ein einziges Mal gefragt, ob ich etwas zu Essen oder zu Trinken bräuchte. Für den bestellten Schwarztee warte ich eine Stunde. Mehrfach werde ich darauf angesprochen, ob ich noch bleibe. Ob man auch ein Notbett hätte, bleibt Geheimnis. 

Die Nachtschwester kennt Mutter bereits seit fünf Jahren. Sie scheinen es gut miteinander zu können, was mich beruhigt. 

Kurze Zeit fühle ich mich in einem schwierigen Dilemma gefangen: Sollte ich bleiben, damit Mutter nachts nicht allein ist? Und wie ist das dann am Morgen, woher nehme ich da Energie und Kraft für die Heimfahrt und alles, was dieser Tag bringen wird, auch für meine Arbeit? Was mache ich mit dem Junghund in dieser Zeit? — Oder sollte ich heimfahren, zu mir und zum Hund schauen, damit wir morgen und in den folgenden Tagen auch wieder mögen? — Mitleid und Barmherzigkeit kontra Verstand und Selbstsorge

Um 23 Uhr setze ich mir einen Punkt: Um Mitternacht ist mir klar, was ich tun soll. Sofort beruhigen sich meine Gedanken und meine Empfindungen.

Mutter schläft (so meine ich jedenfalls) und darum entscheide ich mich zur Heimfahrt. Mutter reagiert nur schwach auf meine Verabschiedung, was meine Meinung über das Schlafen bestärkt.

Dienstag, 2.9. — Aufgrund meiner Agenda arbeite ich vormittags im Büro und fahre am frühen Nachmittag ins Pflegeheim, damit ich zu meinen Abendtermin wieder rechtzeitig in der Praxis sein kann.
Mutter ist klar. Wiederum hängt die Glocke ausserhalb ihrer Reichweite. Sie freut sich an wenig “Coupe au Kirsch“. 
Ich bemerke, dass sie seit Montagabend in unveränderter Stellung liegt. Der Kopf ist dabei für sie typisch stark zur rechten Seite geneigt, die Halspartie samt Schultern ist aufgrund der Parkinsonkrämpfe schon lange versteift in dieser Haltung. 
Heute fällt mir jedoch eine Schwellung untehalb des linken Ohres auf, die leicht bläulich verfärbt ist. Mutter erwähnt, dass sie nur noch hier am Hals Schmerzen habe, sonst sei sie schmerzfrei. Immer wieder versucht sie, den Kopf anders zu halten, was nicht gelingt. Mutter möchte eine Spritze. Die FaGe informiert telefonsich die diplomierte Fachfrau. Wir warten… Nach 30 Min. telefoniere ich der Fachfrau und erkundige mich, ob sie Mutters Schmerzen vergessen habe. Nein, antwortet sie, aber die Vorschrift sei, 2 Std. zwischen den Injektionen zu warten, und da könne sie halt nichts machen...

Ich suche die Stv.-Pflegedienstleiterin auf und rufe bei ihr den Arzt an. Er bestätigt seine Rezeptur und ordnet an, dass so viele Injektionen wie bis zur Schmerzfreiheit nötig seien, verabreicht werden dürfen, ab dann soll mit regelmässigen Intervallen der Spiegel erhalten bleiben. Die Limite liege bei 10 Ampullen innerhalb von 24 Std. — Ich kann mich nicht mehr beherrschen und drohe mit der Presse, falls Mutter bei meinem Wiederkommen später am Abend nicht schmerzfrei sein sollte — und es auch bleiben wird!

Bei dieser Gelegenheit sehe ich in Mutters Dossier zum ersten Mal Fotos vom Dekubitus. Aufgrund der mündlichen Informationen “wir haben es im Griff, es bessert sich, die Behandlung zeigt Fortschritte usw.“ kann ich kaum glauben, was ich da sehe! Die Wirbelsäule liegt blank, darum herum entzündetes Gewebe in der Grösse eines Dessert-Tellers. Immerhin konnte die Fäulnis bisher ziemlich gut verhindert werden… 
Entsetzen und Erschütterung über diese Fotos wechseln zwischen der Wut über die desolate Pflege und die stete Weigerung, Morphium zu geben und der Erleichterung, jetzt die Mo-Frage hoffentlich endgültig gelöst zu haben.

Am Bett besprechen die Stv-Pflegedienstleiterin, die Tagesverantwortliche FaGe und ich die Lage und das weitere Vorgehen.
Täusche ich mich, oder geniesst es Mutter zu erleben, wie ich mich für sie wehre?

Sofort erhält Mutter eine Schmerzspritze, was auch ziemlich rasch die Halspartie sichtbar entspannt.

Trotz des Feierabendverkehrs rund um Zürich fahre ich entspannt und im üblichen Zeitrahmen zurück. Der Spaziergang mit dem Hund, unbeschwertes Spiel mit ihm und etwas zwischen die Zähne machen mich wieder fit.
Das Supervisions-Gespräch verläuft angenehm und tut beiden gut. Ich bin froh, habe ich den Termin nicht abgesagt. 

Inzwischen ist es 21 Uhr geworden und — wie versprochen — fahre ich nochmals zurück nach Widen. Auch heute liegt mein Zeitlimit bei Mitternacht.

Mutter ist schmerzfrei!!! 
Das erste Mal seit etwa 10 Jahren höre ich aus ihrem Mund: Keine Schmerzen! Sie liegt entspannt und atmet ruhig, ebenfalls entspannt. Die Halspartie hat sich etwas normalisiert.
Um 22:30 will die Nachtschwester die zur Erhaltung  des Spiegels notwendige Injektion vornehmen, doch Mutter will nicht! Grund: Keine Schmerzen. Wir sind verduzt und die FaGe wird später wieder kommen und dann die Injektion verabreichen, ohne sich auf eine Diskussion einzulassen.
Bei dieser Gelegenheit vernehme ich, Mutter habe die letzte Nacht überhaupt nicht geschlafen, sondern um 3 Uhr auch noch aufstehen wollen. Aha.

Mutter liegt ruhig da, entspannt und trinkt zwischendurch ab Spritze mehrmals 2-3 ml Rivella. Das Schlucken scheint Schwerarbeit.  
23:30 Uhr: bei mir macht sich Müdigkeit bemerkbar. Darum verabschiede ich mich und mache mich auf den Heimweg.

Vorher gibt es einen Spaziergang mit dem Junghund, der als Azubi Spaziergänge bei Nacht sehr, sehr interessant findet ;-)   

Zwiespalt

25.8.2014
                          
Mutter ist geistig klar und völlig präsent. Das ändert sich während des ganzen Besuchs nicht. Die Absetzung der Parkinson- und anderen Medikamente tut ihr offensichtlich gut! Durch die Morphiuminjektionen, die jetzt offensichtlich regelmässig verabreicht werden,
ist sie nahezu schmerzfrei. Sie wirkt ruhig, entspannt und spricht ziemlich klar artikuliert, wenn auch so leise, dass ich sie nur verstehen kann, wenn ich mich ganz nah zu ihr hin beuge.
Der Verwesungsgeruch ihres Ausatems verschl
ägt mir jedesmal fast den eigenen Atem.

Wiederum habe ich “Coupe au Kirsch“ mitgebracht. Mutter freut sich darüber und geniesst beinahe die halbe Portion. Jeder Schluck braucht Zeit. 
Aus der Zeitung aus dem Bergdorf lese ich ihr ein paar Titel vor und die Todesanzeige der Apothekersfrau aus Mutters Generation. Zusammen erinnern wir uns: Mein neugeborener Bruder verweigerte das Trinken mit der Schoppenflasche. Der Apotheker und seine Frau mussten an einem Sonntag — step by step — ihr gesamtes Nuggi-Depot unserem immer wieder vorsprechenden Vater aushändigen, bis schliesslich einer dem jungen Erdenbürger in den Mund gepasst hatte.  

Weil die Haut an den Druckstellen der Socken schmerzt, creme ich die Stellen ein, was I. offensichtlich sofort Erleichterung bringt.

Dazwischen hören wir vom Personal, dass offenbar schon wieder jemand aufgrund von angeblich abstrusen Bagatellvorwürfen eine schriftliche Verwarnung von der Heimleitung erhalten habe. Scheint hier immer noch ein alltägliches Führungsmittel zu sein.

“Würdest Du bitte noch fertig packen?“ “Mami, wir haben schon letzte Woche gepackt.“ “Auch die Toilettensachen und Kosmetikartikel?“ “Ja, alles ist gepackt und bereit, Du musst Dir keine Sorgen machen!“ “Danke!  Ich bin so froh, dass ich Dich habe!“

Mutter ist müde und möchte schlafen, bittet mich aber, noch eine Weile hier zu bleiben. Während ich am Bett sitze, scheint sie zu dösen. “Habe ich Dir eigentlich schon gesagt, dass ich Dich gern habe?“ flüstert sie unvermutet. — Ich weiss gar nicht, was ich sagen soll.... “Schon sehr lange nicht mehr...“ schliesslich meine ehrliche Antwort. 
Ich mag mich nicht mehr daran erinnern, wann Mutter mir gesagt hätte, dass sie mich liebt. Es muss viele Jahrzehnte her sein. 
“Dann ist es höchste Zeit, es Dir zu sagen: Ich habe Dich lieb und bin froh, dass ich Dich habe!“ — Ich bin baff. — “Danke, das tut gut zu hören...“ antworte ich höflich, obwohl ich merke, dass ich ihr nicht glauben kann. 
Nach einer Weile: “Wie lange musst Du für die Rückfahrt rechnen?“ “Jetzt, in der Rushhour, etwa 1 ¼ Std.“ — “Fahr vorsichtig und pass uuf!“ “Vergiss Dein Hündli nicht!“  “Du musst zu Dir und zum Hündli Sorge tragen!“ — “Denke immer daran, dass ich Dich lieb habe!“ 

Meine Seele fährt Achterbahn.

Berührt und im Zwiespalt meiner Gefühle nehme ich den Heimweg unter die Räder.

  

Endlich Entspannung!

24.08.2014

Weil ich mich sehr erschöpft und ausgelaugt fühle, habe ich seit Donnerstag, 21.8., eine Besuchspause eingelegt.

Am Freitag, 22.8., informiert mich die Heimleiterin, dass I. eine gute Nacht hatte, entspannt und ansprechbar sei und ihr aufgetragen habe, mir liebe Grüsse auszurichten. Diese berühren mich. 
Die Heimleiterin versteht und unterstützt mein Ruhebedürfnis. 

Heute, nach 16 Uhr, rufe ich auf der Station an. Frau G., eine versierte Pflegefachfrau, hat Dienst. Gemäss ihrer Information wurde der Intervall für Mutters Morphium-Injektionen seit gestern auf alle 2 Std. erhöht.
Zudem hätten seit gestern die Schluckbeschwerden zugenommen, weshalb man dazu übergegangen sei, Flüssigkeit und Brei in sehr kleinen Portionen mit der Spritze einzugeben. (Hoffentlich verstehen alle Pflegenden unter “sehr kleinen Portionen“ das Gleiche...)
Seit gestern verweigere Mutter alle Medikamente ausser Morphium. Sie sei jedoch seither viel klarer, gut ansprechbar und gebe auf Fragen zwar sehr leise, aber adäquate Antworten.
Mutter liege insgesamt viel entspannter im Bett und scheine wesentlich weniger Schmerzen zu haben.

Wenigstens eine gute Nachricht, die ich mit den üblichen Vorbehalten zu glauben versuche.

Montag, 12. Januar 2015

Das Ballkleid

21.8.2014

Um 14:50 Uhr hinterlässt mir die Stationsleiterin auf der Combox, dass Mutter seit heute Vormittag schon mehrmals kleine Atemaussetzer gehabt habe. Die Situation sei nicht dramatisch, aber eine deutliche Verschlechterung gegenüber den letzten Tagen. Ausserdem bittet sie um Erlaubnis, zwei, drei T-Shirts am Rücken aufschneiden zu dürfen, damit man I. nicht so oft umdrehen müsse bei Körperpflege und Anziehen. Sie bittet um Rückruf. Infolge eines Telefondefekts an ihrer Linie kann ich sie jedoch nicht erreichen. 
Ich beschliesse darum Programmänderung und Besuch im Pflegeheim.

Kurz vor 17 Uhr treffe ich die Stv. der Heimleiterin. Sie hat am Nachmittag einen Augenschein genommen und bestätigt die Informationen der Stationsleiterin. Dann erwähnt sie einen Eintrag im Dossier aus dem Jahr 2010. Demnach wünsche Mutter als «letztes Gewand» ein Ballkleid. Ich kann das nicht glauben, worauf wir miteinander den entsprechenden Eintrag anschauen. Tatsächlich steht unter «Welche Kleidung wünschen Sie als letztes Gewand?» «Mein Ballkleid!» ... Beim Lesen der weiteren Aussagen, die meine Mutter damals gegenüber einer Pflegeperson gemacht hatte, wird mir klar: Mutter gab auf verschiedene Fragen überspitzte Antworten. Gerade so, als habe sie die Angestellte auf den Arm genommen... War offenbar nicht ihr Tag, damals.... 
Indessen ist mir diese Episode Anregung, mich sobald als möglich um die wirklich letzten Kleider für I. zu kümmern.

Mutter atmet ruhig und regelmässig. Sie ist wach und so klar wie schon lange nicht mehr. Das Absetzen des Parkinson-Medikamentes tut ihrem Geist offenbar gut. Etwas «Coupe au Kirsch» nimmt sie gerne, doch scheint ihr selbst Eiscreme Schwierigkeiten beim Schlucken zu machen. «Würdest Du mir bitte beim Packen helfen?» bittet sie mich unvermittelt zwischen zwei Löffeln Glacé. «Ja klar!» antworte ich «Sobald wir mit dem Coupe fertig sind.» Mutter döst ein und ich mache mich am Kleiderschrank zu schaffen. «Bitte nimm den roten Koffer» weist Mutter mich an, was ich bestätige.

Ich suche das schönste Shirt in Orange-Tönen heraus, welches so gut zu Mutters Teint passte, ein hübsches Unterhemd, eine schwarze Hose sowie weisse Socken und ihre weisse Lieblingsjacke. Alles zusammen hänge ich an einen Bügel mit einem Post-it beschriftet: «Letztes Gewand».Gleichzeitig lege ich für die Pflege noch einige ältere Shirts bereit, die am Rücken aufgeschnitten werden dürfen. Auch sie schreibe ich mit Post-it an.

«Mami, alles ist bereit und gepackt. Du musst Dir keine Sorgen machen!» «Danke, ich bin so froh, dass ich Dich habe.» I. möchte dösen und die Tagesschau hören, ich verabschiede mich.

Zufrieden informiere ich im Flur die Pflegehelferin. Diese betritt das Zimmer mit einem Aufschrei: «Nein, doch nicht jetzt schon!» Dann hängt sie die bereitgemachten Kleidungsstücke in den Schrank zurück. Und ich frage mich, aus welchen Gründen hier einzelne Angestellte so angstvoll auf das Sterben reagieren.


Donnerstag, 13. November 2014

Einschub: Ostern — oder mit dem Tod auf Tuchfühlung

20.04.2014
«Bist Du es?» begrüsst mich Mutter leise aus den Kissen, ohne meinen Namen nachzuschieben, wie sie das bisher immer zu tun pflegte, wenn jemand ins Zimmer tritt. Es ist Ostersonntag, kurz vor 17 Uhr.
«Ich bin noch nicht lange zurück; heute war ich den ganzen Tag in Österreich. Jetzt ist mir schlecht. Gibst Du mir ein Glas Wasser, bitte?»
Tatsächlich, Mutter schaut im Wortsinn leichenblass, wächsern aus. Ich erschrecke, nicht nur wegen dieser Blässe. Irgendwie scheint sonst noch etwas hier zu sein, etwas Unheimliches. Etwas, das mir bei allen bisherigen Sterbebegleitungen noch nie begegnet ist. Etwas, das mich das Fürchten lehrt.

Zur Feier des Tages habe ich Eiscreme mitgebracht: Je einen Becher Schokolade- und einen mit Vanilleglacé. «Glacé? Das ist noch besser als Wasser!» Mutter scheint sich zu freuen. «Hilf mir, damit ich aufstehen kann! Musst nur meine Hand halten, dann kann ich aufstehen.» versucht sie mich zu überreden. Sie besteht darauf, zum Glacé-Essen aufzustehen. Vom angebotenen Getränk trinkt sie mit aussergewöhnlich grossen Schlucken. Wir läuten der Pflegefachfrau, die Mutter bereitwillig in den Rollstuhl setzt, nachdem wir ihr gemeinsam den Morgenmantel angezogen haben. Wie schick sie darin aussieht! Das fröhliche Rot verleiht dem wächsernen Gesicht etwas Lebendiges, eine rosige Frische. Mutter fasst den samtenen Stoff an und erinnert sich sogleich an die edle Machart mit den schönen Goldknöpfen. «Ein Geschenk von R.!» klärt sie uns auf. Die Nennung seines Namens ist selten geworden. I. weilt meist bei Menschen aus ihrer frühen Vergangenheit; vor allem ihre Eltern scheinen sehr präsent zu sein.

Bevor es ans Glacé-Essen geht, verlangt Mutter, dass ich ihr ein Frottiertuch umlege, damit sie den schönen Morgenmantel nicht bekleckere. Als ich eine Papierserviette bringe, moniert sie das Frottiertuch. Erst damit ist sie für die Eiscreme bereit. Vanille und Schokolade von beidem etwas auf dem Löffel, so schmeckt es ihr am besten. «Es ist verrückt: Sie haben mir noch etwas eingepackt, ein Glas oder so. Und dann doch nicht mitgegeben.» «Wer hat Dir etwas eingepackt?» «Die Leute dort.» «In Österreich?» «Ja, klar. Diese !» Das letzte Wort habe ich nicht verstanden, zu unklar war Mutters Aussprache. «Wo bist Du denn gewesen in Österreich?» «In Vorarlberg, wo denn sonst?!» «Weisst Du noch, wer dabei gewesen ist?» «Die, die immer kommen, die mich diese Woche jeden Tag geholt haben. Nur mit dem Heimfahren klappt es nicht immer. Die sind sehr unpünktlich, wenn wir zurückfahren sollten. Das beste wäre, wenn man ein eigenes Auto hätte und selbständig zurückkehren könnte.»

Mit einem feuchten Waschlappen reinige ich nicht nur Mutters Lippen von den Essensresten, sondern auch die verklebten Augen und die mit kaltem Schweiss überzogene Stirn. Eine Nebenwirkung des Morphiums.

Heute mag I. nur eines der erblindeten Augen zeitweise geöffnet halten. Zwischen vielen Fantasiebildern erkennt sie erstaunlicherweise den Übergang von der weiss getünchten Wand zur ebenfalls weissen Zimmerdecke sowie die Umrisse eines der Porzellan-Wandteller, von denen sieben ihre Wand zieren. Märchenteller, die Mutter immer sehr viel bedeutet haben. Ganz aufgebracht behauptet sie, da sei jetzt nur noch einer. Sie will, dass ich den Hochlehner-Fauteuil aus ihrem Blickfeld entferne. Dieser Stuhl steht gerade in Mutters Rücken, an der gegenüberliegenden Wand. Sie kann ihn unmöglich sehen. Darum verschiebe ich Mutters Rollstuhl ein bisschen, wogegen sie sich heftig wehrt. Erst als ich am besagten Lehnstuhl schiebe, gibt sie sich zufrieden.

Die Pflegefachfrau bringt das Nachtessen: Birchermus und Halbgefrorenes, damit Mutter das Birchermus besser schlucken kann. Mutter staunt irgendwie und bemerkt, dass die andere Pflegerin doch etwas von Roastbeef und Auswahlmenü erzählt habe…  
Leider kann ich ihr nicht versichern, dass sie bestimmt Birchermus bestellt habe, denn oft bestellt das Personal Mutters Abendessen aus eigenem Gutdünken.
Nach wenigen Bissen will Mutter nicht mehr. Sagt, sie habe genug. «Ich muss noch zwei Bewohnern das Nachtessen eingeben. Mögen Sie noch solange aufbleiben, oder möchten Sie lieber jetzt schon ins Bett?» erkundigt sich die umsichtige Pflegehelferin. «Ja, ja, ist schon gut. Ich bleibe noch etwas auf.» Die kraftlose Antwort will nicht so richtig zum Inhalt passen. Kaum ist die Pflegerin gegangen bemerkt Mutter, dass sie sich jetzt nur noch auf das Bett freue, weil sie so müde sei, und ihr alles so weh tue, dass sie sich kaum mehr im Stuhl halten könne. Sie wehrt sich jedoch vehement dagegen, die Pflegerin zu rufen.

Wir können kein richtiges Gespräch führen; Mutter ist nicht wirklich da, obwohl sie zwischendurch eine Bemerkung aus dem Hier macht.
Und immer noch empfinde ich dieses Unheimliche; leise Furcht nimmt Besitz von mir. Nicht Angst, sondern Furcht, jenes tiefinnere Wahrnehmen von etwas leise Entsetzlichem, das sich wie unsichtbare Nebelschwaden im Raum bewegt.

Aus allen Gesprächen zwischen Pflegepersonen, Mutter und mir bastelt sie neue Geschichten. «Nicht einmal ein Messer haben sie mir gebracht.» reklamiert I. urplötzlich in die Stille. «Wozu benötigst Du denn jetzt ein Messer?» will ich wissen. «Um beim Käse die Rinde abzuschneiden.» Ich erkläre Mutter, dass sie im Rollstuhl sitzt und vor wenigen Minuten Birchermus zum Abendessen bekommen habe. Sie bestreitet das hartnäckig. Dann bittet sie mich, ihr zu helfen und vom Käse die Rinde zu entfernen. Dazu fuchtelt sie in die leere Luft, um mir den Käse zu zeigen.
Als die Pflegerin ein weiteres Medikament bringt, erkundigt sich Mutter, wann es denn heute Abendbrot gebe, sie hätte gerne Käse und Brot. Die Pflegerin anerbietet sich, später etwas Brot mit Butter und Konfi zu bringen, weil sie keinen Käse auf der Abteilung vorrätig habe.
Mutter willigt zufrieden ein und ich überlege, das nächste Mal etwas rezenten Käse zu bringen, den Mutter zeitlebens gerne gegessen hatte.
Obwohl Mutter in den letzten Jahren im Pflegeheim ihre Liebe zu Süssigkeiten entdeckt zu haben scheint, kann ich ihre Sehnsucht nach Rezentem gut verstehen. Ich erinnere mich an meine Kindheit: Beim Backen von Süssem hielt Mutter immer Bündnerfleisch, Appenzeller Käse und Essiggurken für den Ausgleich bereit, weil ihr das Süsse rasch zuviel wurde.

Nach zwei Stunden kann ich nicht mehr. Alle meine Energie ist weg, ich habe nur noch ein Bedürfnis: So rasch wie möglich raus hier! Die Pflegefachfrau montiert eine Tischplatte am Rollstuhl, damit Mutter nicht erneut vornüberfallen kann.

Mutter wünscht mir gute Heimfahrt und erklärt, dass sie sich zusammen mit meinem Freund G. eine Wohnung nehmen wolle. Da hätten sie es dann lustig miteinander. Lachend bitte ich Mutter, mich vor ihrem Umzug rechtzeitig zu informieren.

Das Unheimliche begleitet mich noch ein gutes Stück nach draussen. An der frischen Luft merke ich, wie ausgelaugt ich bin. Nach einem Blick in den Spiegel vergesse ich die Absicht, unterwegs gemütlich Einkehr zu halten.

Es ist jetzt 19 Uhr. Die Strassen sind leer, ich komme gut voran. Mit zunehmendem Abstand kehren meine Lebensgeister wieder zurück. Trotzdem wünschte ich mir diesmal, eine gute Seele hätte zuhause für mich ein feines, warmes Essen bereitetIch lege eine glutenfreie tiefgekühlte Pizza in den Backofen und sinke erschöpft in den Lehnstuhl.