Sonntag, 30. März 2014

Das Elend und die Ohnmacht

Geschickt verstanden es I. und R. vor seinem ersten Nierenversagen, uns (R.s Sohn und Tochter und mich) über längere Zeit hinzuhalten, unsere Besuche zu verhindern und so zu versuchen, die schleichende Verwahrlosung geheim zu halten. Ich erinnere mich noch gut daran, als ich zum ersten Mal den Kühlschrank räumte und den Abfallsack entsorgte, bevor deren Inhalte sich selbständig auf den Weg machten. Ebenso sitzt mir der erfahrene Ekel noch in den Gliedern, als ich einmal zum Nachtessen eingeladen, vor vergammelten Fleischstücken auf schmutzigen Tellern sass...

Meine Mutter, die stets adrett angezogen und leicht geschminkt Wert auf gepflegtes Äusseres wie auf sorgfältigen Umgang mit Lebensmitteln legte, die es verstanden hatte, auch mit wenig Geld schmackhafte, gesunde Mahlzeiten zu kreieren, diese Frau erlebte ich jetzt in einem unbeschreiblichen, für mich (in diesem Zusammenhang) nie für möglich gehaltenen Chaos... "Man gewöhnt sich an alles!" pflegte sie auf meine Einwendungen zu erwidern.
Noch schlimmer: sie verbot mir, helfend Hand anzulegen. Selbständig wollte sie sein, souverän ihr Leben leben, so, wie es sich halt jetzt ergab.

Das erste Nierenversagen von R. hatte insofern sein Gutes, als es mir und seinen Kindern von da an möglich war, wöchentlich wenigstens einen Besuch zu machen. Während R.s Kinder die Einkäufe und andere Unterstützungen vor Ort übernahmen, besorgte ich die Wäsche. Anfänglich gegen den Willen von I., die diese Aufgaben weiterhin ihrem Mann zumuten wollte. Dieser jedoch nahm unser Angebot dankbar an. So war wenigstens sichergestellt, dass die Lebensmittel immer in einigermassen genussfähigem Zustand waren, Abfall und Altpapier regelmässig entsorgt wurden und genügend saubere Wäsche zur Verfügung stand.
Eines Tages wurde das Wechseln der Bettwäsche zu einem taktischen Manöver. Wochen später erlitt R. sein zweites Nierenversagen.

Gespräche mit der erfahrenen Hausärztin, die einmal monatlich einen Hausbesuch abstattete, ergaben stets das gleiche Ergebnis: Auch sie bemerkte die schleichende Verwahrlosung und sprach diese gegenüber I. an. Auch sie bekam die gleichen Erklärungen zu hören, wie wir. Ihre Spitex-Verordnungen wurden ebenso wie der bestellte Mahlzeiten-Dienst mehrmals postwendend mit der Begründung abgelehnt, es gehe jetzt wieder besser, man komme wieder gut alleine zurecht.

In den vielen Jahren meiner Tätigkeit als Kriminalbeamtin und auch später noch, als Personalchefin, habe ich viele erschütternde Erfahrungen gemacht und viele verwahrloste Menschen angetroffen. Dabei war es mir stets einigermassen gut gelungen, mich emotional berühren zu lassen und trotzdem eine gesunde innere Distanz zu halten - oder diese zumindest rasch wieder herstellen zu können.

Wie anders fühlt sich doch dieses ganze Elend an, wenn es die eigene Mutter betrifft, man (aller Professionalität zum Trotz) ohnmächtig und hilflos zuschauen (und abwarten) muss, bis etwas so Gravierendes passiert, dass notfallmässiges Eingreifen unumgänglich wird...