R. war
derart geschwächt, dass die weitere Pflege seiner Frau seine Kräfte bei weitem überschritten hätte und er wohl auch kaum noch in
der Lage gewesen wäre, für sich allein in die Wohnung zurückkehren zu können.
R.s Tochter
und mir oblag es deshalb, einerseits innert Kürze einen Pflegeplatz für die Eheleute zu finden, und
anderseits I. und ihren Mann von der Unabänderlichkeit dieses Schrittes zu überzeugen. Der Druck, der seitens
des Spitalpersonals auf uns gemacht wurde, ist nicht in Worte zu fassen.
Auf der anderen
Seite waren da unsere Eltern, die ebenso überrumpelt wie von der Situation überfordert waren. Kein Wunder, wurde
die Kommunikation da zu einer der grössten Herausforderungen meines Lebens!
Schliesslich
fanden sich ein freies Ferienzimmer und eine Heimleiterin, die uns
sympathisch und kompetent ermutigte und ihre Unterstützung zusagte. Während sich R. freute, gab I. ihre Zusage zu diesem Schritt nur für höchstens 4 Wochen und unter Betonung ihres
absoluten Widerwillens. Sie ahnte bestimmt, dass es von dort dann kein Zurück mehr geben würde.
Die Ehebeziehung
wurde auf eine harte Probe gestellt, drohte doch I. mit der Scheidung, falls
R. mit einem definitiven Umzug einverstanden sein sollte... Trotz ihrer illusorischen Vorstellung hatte diese Drohung eine starke Auswirkung auf den
armen Mann. Dass wir alle drei Kinder ihn unterstützten, war ihm vermutlich keine
allzu grosse Hilfe, musste er doch täglich 24 Stunden mit seiner wütenden Frau im selben Zimmer
verbringen…
Einem
Nervenzusammenbruch nahe zog ich mich einige Wochen in meine damalige
Zweitwohnung in Arosa zurück und überliess den Eltern die volle Verantwortung für ihre weiteren Entscheidungen. Klar
war einzig, dass ich, bei einer Rückkehr in die eigene Wohnung, keine
Hilfe mehr würde anbieten können.
Während I. mit Abwehr beschäftigt war, blühte R. trotz der Attacken seiner
Frau sichtbar auf. Nächte durchschlafen, gesundes Essen, Zuwendung des Personals und soziale
Kontakte am Esstisch taten dem geselligen Mann gut. Und das wiederum schien die
Wut seiner Frau noch mehr zu schüren…
Trotzdem gelang
es der erfahrenen Heimleiterin in einem hervorragend geführten Familiengespräch in Anwesenheit von R.s Kindern, die Sympathien von I. zu gewinnen und die Eheleute vom definitiven
Umzug in das Pflegeheim zu überzeugen. Das war kurz vor Weihnachten 2008. Es sollte indessen ein
gutes Jahr vergehen, bis I. sich damit abgefunden schien und betonte, froh zu
sein, dass sie hier sein dürfe.
Über die Möblierung des neuen Heims unserer Eltern und das Einleben im Doppelzimmer
gäbe es vieles zu
berichten. Immerhin mussten auf kleinem Raum ein Rollstuhl und zwei Rollatoren
Platz finden, nebst zwei Betten mit Nachttischen, einem Tisch und zwei Stühlen sowie einem Möbel für den grossen TV und einer Vitrine für etwas Geschirr usw. Die zwei
Einbauschränke boten nur sehr wenig Platz für die Kleider von zwei Personen,
auch wenn für saisonal nicht Gebrauchtes noch ein Kleiderschrank im Keller zur Verfügung stand. Also brauchte es auch
noch eine Kommode. Viele Hin- und Herfahrten später war schliesslich ein gemütliches und funktionelles Zimmer
eingerichtet, von dem beide sagten, es gefalle ihnen und sie fühlten sich wohl darin.
Als nächstes standen die
Vollmachtregelungen an. Die Eheleute kamen überein, mich als die älteste aller Kinder mit der
Vollmacht für beide zu betrauen. Erst später wurde mir klar, was die Heimleiterin mit
ihrer Bemerkung «Oh je, Sie Arme!» ausdrückte, als ich ihr die entsprechenden
Formulare übergab. In jenem Moment fühlte ich mich nämlich noch ziemlich erleichtert.…
Jetzt musste die
Wohnung geräumt und gekündigt werden. Uns graute davor, doch es gab kein Entrinnen. Viereinhalb
Zimmer samt Keller warteten auf uns. Es war das erste und einzige Mal, dass wir
angeheirateten Stiefgeschwister zu dritt eine Ferienwoche miteinander
verbrachten. Mein Bruder hielt sich vornehm zurück mit dem Verweis, dass er keine Zeit habe, extra in die Schweiz zu
reisen.
Es ist ein
eigenartiges Gefühl, alle die Gegenstände, Kleider, Briefschaften, Fotos, Haushaltsachen und Kinderspielsachen
zu sichten, die unsere Eltern in ihren sehr bewegten Lebensjahren aufbewahrt,
gesammelt, gekauft und geliebt hatten! — Und das Schlimmste: Für die jetzt weder Platz noch Verwendungsmöglichkeiten waren… Noch jetzt kommen mir Tränen im Gedanken daran, wie wir Dinge
dem Brockenhaus überlassen mussten, für die unsere Eltern zum Teil jahrelang hatten sparen müssen,
die sie sich gegenseitig geschenkt und sich daran gefreut hatten, auf die sie
viele Jahre sehr stolz gewesen waren… Noch heute fühle ich mich mies bei diesen
Gedanken…
Je ein Karton
mit Rosenthal Porzellan und mit Zinnkannen und -bechern lagern bei mir im
Keller. Das Zinn wird wohl eines Tages die Reise nach den USA antreten, da mein
Bruder kaum mehr in die Schweiz kommen wird. Was ich mit dem Porzellan machen
soll — unserem
Feiertagsgeschirr (ja, so etwas hatte man früher!) — weiss ich auch bald sechs Jahre später noch immer nicht.
Heute frage ich
mich, ob wir vielleicht einen grossen Fehler machten, als wir die Eltern, vor
allem I., nicht mitgenommen haben zum Räumen oder nachher, um sich von der geräumten Wohnung zu verabschieden.
Natürlich wäre es sehr umständlich und teuer gewesen, Mutter jedes
Mal mit dem Behinderten-Taxi hin und zurück zu transportieren; eine
Transportart, vor der sie sich zudem fürchtete (nach einem früheren Kuraufenthalt in einer Reha-Klinik). Natürlich hätte es wieder viele unschöne Diskussionen über den Umstand gegeben, dass wir
Kinder — alle über der Lebensmitte — keinen Bedarf für alle diese Gegenstände hatten und es nicht lieblos, sondern eine Platz- und Energiefrage
war, dass wir das Brockenhaus kommen liessen, statt alles unter uns aufzuteilen
oder auf einer Internetplattform zum Kauf anzubieten. Aber vielleicht könnte Mutter heute, in ihrem
Sterbeprozess, besser damit umgehen, dass sie in Urdorf keine Wohnung mehr hat.
Fragen, auf die
es keine Antwort gibt.
Erwähnenswert scheinen mir als
Nebenschauplätze einerseits die zähen Verhandlungen mit dem Vermieter
(Liegenschaftsabteilung eines Detailhandelsmultis mit sozialem Ursprung) über die ausserterminliche Kündigung, die Renovation und die
Reinigung kurz vor der unmittelbar bevorstehenden baulichen Gesamtrenovation (Totalerneuerung von Nasszonen und Küche).
Und dann wären da noch die Kapitel «Hilflosen-Entschädigung» und «Ergänzungsleistungen als Zusatzleistungen zur AHV» zu nennen. Dazu nur soviel: Weil einer der Ärzte vier Monate brauchte, um das Formular zu unterschreiben, ging Mutter ein ganzes Jahr an Hilflosen-Entschädigung verlustig. Und weil Sachbearbeiterinnen
bei der SVA mehrmals übersahen, dass I. Hilflosen-Entschädigung bekommt, waren eines schönen Tages CHF 10'000.00 an «missbräuchlich» empfangenen Zusatzleistungen
innerhalb von 30 Tagen zurück zu zahlen. Obwohl ich beweisen konnte, dass der gravierende Fehler in der SVA
gemacht worden und trotz mehrfacher Neuberechnung übersehen worden war, änderte sich an dieser Verfügung nichts. Wichtiges Detail: Das Geld zur Bezahlung dieser grossen Summe musste ich vom gerne zitierten "Freibetrag" des Vermögens nehmen.
Zwei juristische
Experten für Sozialversicherungsrecht formulierten es so: «§ 1: In Fällen wie diesen hat die SVA immer recht. § 2: Sollte die SVA hier einmal nicht
recht haben, tritt automatisch § 1 in Kraft. — Daran ändert auch die sogenannte „Rechtsmittelbelehrung“ nichts.» Mit anderen Worten: Sich gegen die SVA zu wehren ist zwecklos!
Es waren viele
harte, kräftezehrende Monate zu meistern — wohlverstanden neben dem «Daily Business» für den Broterwerb. Erschöpfung drohte zu einem Dauerzustand zu werden. Dieser ganze Prozess hat
meinen Respekt und meine Achtsamkeit für mein eigenes Altern jedenfalls
enorm vergrössert.