Montag, 9. Juni 2014

Besuch aus Amerika

29.3.2014
Heute treffe ich etwa um 11 Uhr im Pflegeheim ein. Bis zum Mittagessen bleibt uns eine gute Stunde Zeit.  

«Schön, dass du da bist. Ich bin so froh, dass du gekommen bist!» empfängt mich Mutter mit leiser Stimme. Um nach einer Weile fortzufahren: «Die haben hier nämlich alle ein Brett vor dem Kopf. Obwohl ich jeden Tag aufstehe, sagen sie mir immer wieder, ich sei zu schwach zum Aufstehen. Die merken gar nicht, dass ich schon längst aufgestanden bin, wenn sie kommen.»  «Kannst Du denn allein aufstehen?» «Nein, aufstehen kann ich nicht allein, da brauche ich Hilfe, weil irgend etwas im Körper blockiert ist. Aber laufen kann ich wieder sehr gut allein!» «Wo ist denn etwas blockiert in Deinem Körper?» Mutter deutet auf ihre rechte Hüfte. Vor etwa 20 Jahren liess sie ihre beiden Hüftgelenke wegen Arthrose operieren. I. bittet mich, ihr beim Aufstehen zu helfen. Als ich ihr sage, dass ich das wegen ihrer Blockierung nicht allein könne, sondern eine Pflegerin rufen müsse, erklärt sie, dass ich nichts tun müsse, ausser sie in ihrem Wunsch, aufzustehen, zu unterstützen. Das verspreche ich.

Dann erzählt mir Mutter, dass sie heute Vormittag in W. gewesen sei, im Spital. Dort habe sie einen Besuch bei ihrer Mutter gemacht, die sich sehr gefreut habe, sie zu sehen.
Kürzlich schilderte sie mir, wie sie mit ihrer Mutter auf einem Friedhof gewesen sei und dort gesehen habe, dass da kein Platz mehr sei für sie. Dabei wirkte sie sehr traurig. Damals tröstete ich Mutter, dass es im Urnengrab ihres vor vier Jahren verstorbenen Mannes einen Platz für sie habe.

Das Mittagessen wird von einer Pflegerin eingegeben. Wir unterhalten uns über das Abtauen meines Kühl- und Gefrierschrankes, welches mir dieses Mal besonders Schwierigkeiten bereitete, weil die Eisschicht viel zu dick gewesen war, um in einer Nacht abzutauen. Der körperliche Einsatz verursacht Muskelkater, der sich nun langsam bemerkbar macht. Die FaGe gibt mir den Tipp, den Kühlschrank mit dem Föhn abzutauen, was ich bestimmt versuchen werde.
Mutter beteiligt sich nicht an unserem Gespräch. Nach der halben Portion hat sie genug. Als Folge von «Parkinson» wird Schlucken immer schwieriger für sie, weshalb sie manchmal nicht gerne trinkt. Verständlich.

«Rosemarie, du musst mir beim Aufstehen helfen! Du musst nicht arbeiten, nur den Pflegerinnen sagen, dass ich aufstehen darf und sie mir helfen müssen.» Diesem Wunsch komme ich beim nächsten Mal nach, als die FaGe den Espresso für I. bringt.

«Ich möchte so gerne sterben.» klingt es unvermittelt aus den Kissen. «Ja was denn nun, willst du aufstehen oder sterben?» «Mach' dich nicht lustig!» «Nein, ich mache mich nicht lustig, sondern nehme beide Wünsche sehr ernst, das Aufstehenwollen wie das Sterbenwollen; sehr ernst sogar.» Ich nutze die Gunst der Stunde, weil I. das Thema Sterben bisher nie ansprechen wollte. «Was hält Dich denn vom Sterben ab?» «So eine dumme Frage!» weist Mutter mich zurecht. «Ja, das ist wahr, das war wirklich eine blöde Frage. Ich meinte eigentlich: Was hält Dich noch zurück?» «Das weiss ich nicht, ich bin schliesslich noch nie gestorben!» «Ja, klar. Ich auch nichtWas meinst Du, gibt es noch etwas zu tun, möchtest oder musst Du noch etwas erledigen?» «Nein.» «Müssten ich oder wir beide miteinander noch etwas erledigen?» «Nein, nichts.» «Müsste Dich noch jemand besuchen kommen?» «Nein, nur meine Leute.» «Wer sind deine Leute?» «Du!» «Ich bin ja da und ich komme immer wieder. Sonst noch jemand?» «Ich erwarte Besuch aus Amerika…» Endlich ist das ausgesprochen, was Mutter seit Monaten bewegt, was sie im letzten Herbst einmal geäussert und seither stets verneint hat: ihre Sehnsucht nach J., ihrem Sohn, der 1992 nach Kalifornien auswanderte und den sie seither nie mehr gesehen hat. «Möchtest Du, dass J. kommt?» hake ich nach. «Ja.» «Gut, er ist wegen des Studiums telefonisch schlecht zu erreichen. Ich schreibe ihm heute eine E-Mail und teile ihm Deinen innigen Wunsch mit. Ob er allerdings kommt, steht auf einem anderen Blatt. Du weisst, dass die Chance dafür klein ist. Seit Deinem Sturz hat er ausser der Karte mit Genesungswünschen nicht mehr nach Dir gefragt.» «Doch! Er schreibt mir jede Woche. Das weisst du nur nicht.» «So? Gut, ich schreibe ihm!» «Ich wünsche gar nichts mehr» kommt ganz leise und resigniert Mutters Antwort. «Mami, ich kann Deine Enttäuschung und Deinen Schmerz gut verstehen und nachfühlen. Es muss furchtbar sein, wenn man ein geliebtes Kind, das man unter solch schwierigen Umständen geboren hat, 20 Jahre nicht mehr sieht. Ich will alles versuchen, dass J. kommt.»  «Gibst du mir noch Kaffee, bitte?»

I. ist erschöpft und möchte schlafen. Heute kann ich mich gut verabschieden. Mit meinem Versprechen, dass ich wieder komme, wünscht sie mir eine gute Heimfahrt und ermahnt mich, gut zu mir zu schauen.