Wegen des neuen Kinder- und Erwachsenen-Schutzgesetzes müsste I. entweder eine Patienten-
oder eine Vorsorgeverfügung
erstellen. Handschriftlichkeit schreibt der Gesetzgeber hierfür vor. Mutter ist
krankheitshalber erblindet und kann schon seit Jahren nicht mehr selber schreiben
oder unterschreiben. Ich müsste also einen Notar mit ins Pflegeheim bringen, der die Verfügung aufnimmt und beurkundet. Mutter stellt sich kategorisch dagegen mit der Begründung,
sie habe ja bereits 2008 mit einer persönlich unterzeichneten Vollmachtregelung alles bestimmt, was es an
Stellvertretung zu bestimmen gebe. In Absprache mit der Heimleitung schreibe
ich in einem Brief nochmals die Vereinbarungen nieder, wie sie mit Mutter
besprochen wurden, insbesondere der Verzicht auf Reanimation und weitere
lebensverlängernde
Massnahmen, die Gewährleistung
der Schmerzfreiheit und die gewünschten
Formalitäten bei Todesfall,
da das Pflegeheim im Kanton Aargau liegt, die Wohnsitzgemeinde von Mutter
jedoch im Kanton Zürich.
Die Heimverantwortliche verspricht, die Stationsleitung zu informieren und auch
dieses Schreiben ins Dossier von I. abzulegen, wo auch die Original-Vollmacht
deponiert sein sollte.
Am Mittwochvormittag, 19.2.2014, versucht mich die
Heimverantwortliche auf allen Kanälen
zu erreichen. Bei meinem Rückanruf
erfahre ich, dass es mit meiner Mutter «einen äusserst
unangenehmen Vorfall» gegeben habe, wie sich Frau W. ausdrückt. Es geht um folgendes Ereignis: Als die FaGe I.
in ihrem Rollstuhl zur Morgentoilette in die Nasszelle fuhr, kollabierte I. und
stürzte in der Folge kopfüber aus dem Rollstuhl auf den
Steinboden, wo sie bewusstlos liegenblieb. Notarzt und Ambulanz wurden
alarmiert, welche nach längerem
Einsatz vor Ort (ob Reanimation erfolgte, ist bis heute unklar) I. ins
Kantonsspital Baden transportierte. Die Rissquetschwunde über dem linken Auge wurde
geheftet. Für das gebrochene Nasenbein, die Halswirbeldistorsion, die
unzähligen Quetschungen und
Prellungen sowie den Schock bleibt die Heilung der Zeit überlassen.
Bei meinem Eintreffen im Spital wird Mutter gerade wieder in den
Rettungswagen verfrachtet; Rücktransport
ins Pflegeheim. Überrascht
hat mich hier, dass nach dem ärztlichen
Eingriff und etwa 5 Stunden nach dem Unfall sowohl das Gesicht, wie der ganze
Kopf meiner Mutter noch immer blutverklebt sind.
Zurück im
Pflegeheim beobachte ich, wie liebevoll und kompetent I. aufgenommen und sauber
gepflegt wird. Sie ist bei klarem Bewusstsein, hat jedoch keine Erinnerung an
den Unfall. Sie klagt über äusserst starke Schmerzen am
Skelett, deren Grund sie sich nicht erklären
kann.
Laut Spitalprotokoll habe Mutter sich angeblich gegen die Reinigung von Gesicht, Kopf und Mund vehement gewehrt, weshalb man das Blut halt habe eintrocknen lassen.
Laut Spitalprotokoll habe Mutter sich angeblich gegen die Reinigung von Gesicht, Kopf und Mund vehement gewehrt, weshalb man das Blut halt habe eintrocknen lassen.
Die FaGe im Dienst inklusive Stationsleitung zeigen ebenfalls noch
deutliche Schocksymptome. Ich leiste Seelsorge, wo ich kann.
Ob das der Anfang von Mutters Ende ist? Vieles an I.s Verhalten
scheint in der Folge darauf hinzudeuten. Sie hat jetzt oft Angst vor dem Alleinsein. Die
erste Woche besuche ich sie täglich,
was mir auch organisatorisch einiges abverlangt. Auch im Pflegeheim scheint man
im Umgang mit I. öfter an eigene
psychische Grenzen zu stossen, was ich einerseits verstehen kann und mich
anderseits doch überrascht,
weil ich davon ausgehe, dass Mutters Seinszustand zwischen vielen Welten und
gleichzeitig auch im Hierundjetzt kein Einzelfall ist.
Jetzt wird deutlich, dass es noch immer an Personal mangelt. Beziehungsweise,
dass das, was als Dienstplan auf dem Papier so toll schlank daher kommt und
jedes Ökonomenherz
höher
schlagen lässt, eben nicht praxistauglich ist. Denn verwirrte Menschen,
die zudem blind und gelähmt sind, brauchen mehr Betreuung und demzufolge mehr Zeit,
als technokratisch gerne errechnet wird.
Wenn Mutter geistig klar ist, überrascht
sie immer wieder mit ihrem messerscharfen Verstand.
Es sind anspruchsvolle Wochen, denen wir alle entgegen gehen. Ein
Weiterbildungsseminar par excellence in Sachen geistige Möglichkeiten und Grenzerfahrungen
im Menschsein.