Montag, 2. Juni 2014

Der Sturz

Wegen des neuen Kinder- und Erwachsenen-Schutzgesetzes müsste I. entweder eine Patienten- oder eine Vorsorgeverfügung erstellen. Handschriftlichkeit schreibt der Gesetzgeber hierfür vor. Mutter ist krankheitshalber erblindet und kann schon seit Jahren nicht mehr selber schreiben oder unterschreiben. Ich müsste also einen Notar mit ins Pflegeheim bringen, der die Verfügung aufnimmt und beurkundet. Mutter stellt sich kategorisch dagegen mit der Begründung, sie habe ja bereits 2008 mit einer persönlich unterzeichneten Vollmachtregelung alles bestimmt, was es an Stellvertretung zu bestimmen gebe. In Absprache mit der Heimleitung schreibe ich in einem Brief nochmals die Vereinbarungen nieder, wie sie mit Mutter besprochen wurden, insbesondere der Verzicht auf Reanimation und weitere lebensverlängernde Massnahmen, die Gewährleistung der Schmerzfreiheit und die gewünschten Formalitäten bei Todesfall, da das Pflegeheim im Kanton Aargau liegt, die Wohnsitzgemeinde von Mutter jedoch im Kanton Zürich. Die Heimverantwortliche verspricht, die Stationsleitung zu informieren und auch dieses Schreiben ins Dossier von I. abzulegen, wo auch die Original-Vollmacht deponiert sein sollte.

Am Mittwochvormittag, 19.2.2014, versucht mich die Heimverantwortliche auf allen Kanälen zu erreichen. Bei meinem Rückanruf erfahre ich, dass es mit meiner Mutter «einen äusserst unangenehmen Vorfall» gegeben habe, wie sich Frau W. ausdrückt. Es geht um folgendes Ereignis: Als die FaGe I. in ihrem Rollstuhl zur Morgentoilette in die Nasszelle fuhr, kollabierte I. und stürzte in der Folge kopfüber aus dem Rollstuhl auf den Steinboden, wo sie bewusstlos liegenblieb. Notarzt und Ambulanz wurden alarmiert, welche nach längerem Einsatz vor Ort (ob Reanimation erfolgte, ist bis heute unklar) I. ins Kantonsspital Baden transportierte. Die Rissquetschwunde über dem linken Auge wurde geheftet. Für das gebrochene Nasenbein, die Halswirbeldistorsion, die unzähligen Quetschungen und Prellungen sowie den Schock bleibt die Heilung der Zeit überlassen.

Bei meinem Eintreffen im Spital wird Mutter gerade wieder in den Rettungswagen verfrachtet; Rücktransport ins Pflegeheim. Überrascht hat mich hier, dass nach dem ärztlichen Eingriff und etwa 5 Stunden nach dem Unfall sowohl das Gesicht, wie der ganze Kopf meiner Mutter noch immer blutverklebt sind.
Zurück im Pflegeheim beobachte ich, wie liebevoll und kompetent I. aufgenommen und sauber gepflegt wird. Sie ist bei klarem Bewusstsein, hat jedoch keine Erinnerung an den Unfall. Sie klagt über äusserst starke Schmerzen am Skelett, deren Grund sie sich nicht erklären kann.
Laut Spitalprotokoll habe Mutter sich angeblich gegen die Reinigung von Gesicht, Kopf und Mund vehement gewehrt, weshalb man das Blut halt habe eintrocknen lassen.

Die FaGe im Dienst inklusive Stationsleitung zeigen ebenfalls noch deutliche Schocksymptome. Ich leiste Seelsorge, wo ich kann.

Ob das der Anfang von Mutters Ende ist? Vieles an I.s Verhalten scheint in der Folge darauf hinzudeuten. Sie hat jetzt oft Angst vor dem Alleinsein. Die erste Woche besuche ich sie täglich, was mir auch organisatorisch einiges abverlangt. Auch im Pflegeheim scheint man im Umgang mit I. öfter an eigene psychische Grenzen zu stossen, was ich einerseits verstehen kann und mich anderseits doch überrascht, weil ich davon ausgehe, dass Mutters Seinszustand zwischen vielen Welten und gleichzeitig auch im Hierundjetzt kein Einzelfall ist.

Jetzt wird deutlich, dass es noch immer an Personal mangelt. Beziehungsweise, dass das, was als Dienstplan auf dem Papier so toll schlank daher kommt und jedes Ökonomenherz höher schlagen lässt, eben nicht praxistauglich ist. Denn verwirrte Menschen, die zudem blind und gelähmt sind, brauchen mehr Betreuung und demzufolge mehr Zeit, als technokratisch gerne errechnet wird.

Wenn Mutter geistig klar ist, überrascht sie immer wieder mit ihrem messerscharfen Verstand.

Es sind anspruchsvolle Wochen, denen wir alle entgegen gehen. Ein Weiterbildungsseminar par excellence in Sachen geistige Möglichkeiten und Grenzerfahrungen im Menschsein.