Montag, 9. Juni 2014

Ich weiss jetzt, dass du mir nicht helfen willst.

25.3.2014
Seit dem Sturz sind rund fünf Wochen vergangen. In der darauf folgenden ersten Woche habe ich es eingerichtet, dass ich jeden Tag gegen Abend bei Mutter vorbeischauen konnte. Mit der Zeit musste ich wieder vermehrt für mich schauen und meine Ressourcen besser einteilen. Fortan besuchte ich Mutter etwa zweimal pro Woche.

Vor drei Tagen war ich das letzte Mal bei Mutter. Seither hat sie sichtbar an Kräften verloren. Mit schwacher Stimme scheint ihr das Sprechen schwer zu fallen, nicht zuletzt auch wegen des trockenen Mundes. Trinken möchte sie jedoch nicht, sie habe schon viel getrunken heute. Ein Blick auf das Kontrollblatt zeigt um 17 Uhr eine Trinkmenge von ca. 75 ml seit dem Morgen.

Wie seit ihrem Sturz vor einem Monat üblich, liegt sie im Bett. Anders als sonst meist, entschuldigt sich I. heute nicht deswegen. Sie freut sich über meinen Besuch und fragt, ob ich sie holen komme, sie wolle nach Hause gehen. Wohin ich sie denn bringen solle? «Auf die Strasse.» Was sie auf der Strasse wolle? «Denn Weg suchen für nach Hause.» Meine Frage, wo sie denke, zuhause zu sein, bleibt unbeantwortet; I. döst. Plötzlich ihre Aufforderung: «Rosemarie, du musst mir helfen!» «Wobei?» «Den Weg zu finden. Bringe mich auf die Strasse!» Etwas überrascht antworte ich, dass ich das keine gute Idee fände, auf der Strasse, im Schneeregen, nach dem Weg zu suchen. Mein Angebot: Ich bleibe hier am Bett bei ihr und helfe ihr so, den Weg zu finden. «Wie soll ich denn das machen?» — — Ich schweige einen Moment, bin gerade überfordert. Dann mein Eingeständnis: «Das weiss ich jetzt gerade auch noch nicht.» I. nickt wieder ein.

«Ich will jetzt endlich heim!» macht Mutter einen weiteren Anlauf. Wie schon so oft in den vergangenen Monaten, erkläre ich ihr, dass sie in ihrem Zimmer, in ihrem Bett liegt, was Mutter kategorisch verneint. «Lüge mich nicht an! Ich weiss genau, dass ich nicht hier zuhause bin, sondern in U.» «Mami, Du wohnst seit 2008, seit fünfeinhalb Jahren, hier in diesem Zimmer, wo auch Deine Sachen sind: Deine Bilder hängen an der Wand, Deine Möbel» «Hör' auf mit Aufzählen! Ich weiss jetzt, dass Du mir nicht helfen willst. Es ist sinnlos, mit Dir zu reden.» klingt es enttäuscht und erschöpft aus den Kissen.

Ein Stich fährt mir mitten ins Herz.
Doch ich halte zweieinhalb Stunden Stille aus und sitze einfach nur da, bin geistig ganz präsent, lasse verschiedene Episoden aus meiner Kindheit wie auch aus den letzten Jahren und Monaten unseres Weges vor dem inneren Auge vorbeiziehen. In dieser Zeit spricht Mutter nur mit der FaGe wenige Worte. Auf die Frage, ob es ihr gerade nicht so gut gehe, antwortet sie kategorisch: "Das kommt schon wieder!"

Nach dem Nachtessen (Mutter lässt sich, enttäuscht, dass im angekündigten «Vogelheu mit Aprikosenkompott» angeblich das Brot fehlt, nur wenige Löffel der pürierten Nahrung eingeben) erkundigt sie sich, wann Grossmutter verstorben sei und wann ihr eigener Mann. Dann will sie wissen, was G. jetzt gerade mache. Er gehört zu meinem engsten Freundeskreis. Sie kennt ihn und mag ihn gut.

Später erklärt I., sie sei sehr müde. Ich frage sie, ob sie schlafen möchte und ob sie möchte, dass ich noch etwas hier bleibe, oder ob ich auch heimgehen dürfte. Eine «gefährliche» Frage, die in der Vergangenheit immer wieder zur endlosen Debatte geführt hatte, weshalb ich nicht bei ihr schlafe oder sie mit zu mir nehmeDieses Mal allerdings kommt es ganz anders. Sie bittet mich, den TV einzuschalten, damit sie etwas von der Tagesschau hören könne, gibt mir Grüsse für G. mit, ermahnt mich, vorsichtig zu fahren, denn sie habe nur mich und bittet um mein Wiederkommen. Den Tränen nahe versichere ich I., dass ich ihr soweit helfe, wie ich nur könne. "Das weiss ich schon." Mutters lakonische Antwort.

«Ihre Mutter ist noch nicht bereit zu Sterben, sie hängt noch am Leben, obwohl ihre Kräfte jeden Tag schwinden.» klärt mich die FaGe im Korridor auf. Aha. Wie ich sie hasse, diese ungefragten, unqualifizierten, pseudo-analytischen Kommentare und Belehrungen seitens der Pflegenden!  
Jedesmal empfinde ich sie als Ohrfeige wie auch als psychologische Übergriffe erster Güte meiner Mutter und mir gegenüber.

Erschöpft und aufgewühlt vom Wechselbad der Gefühle nehme ich meinen Heimweg unter die Räder. Um diese Zeit kann ich damit rechnen, in einer Stunde zuhause zu sein.