Montag, 9. Juni 2014

Muttertag

11.5.2014
Heute ist Muttertag. Früher war dies ein fröhlicher Familiensonntag. Seit Mutter im Pflegeheim wohnt, ist er nicht mehr so unbelastet; wie es keiner der gefühlsschwangeren Feiertage wie Geburtstag, Weihnacht, Ostern mehr sein kann.

In den letzten Wochen hat Mutter immer wieder gezeigt, dass sie Freude hätte, wenn ich mit ihr das Mittagessen einnähme. Heute will ich ihr diesen Wunsch erfüllen. I. geht nicht mehr gerne in den öffentlichen Speisesaal des Zentrums. An guten Tagen isst sie im kleinen Speiseraum auf der Etage, an weniger guten oder wenn sie Besuch hat, bleibt sie im Zimmer. Damit sich Mutter freuen kann, melde ich meinen Besuch etwa eine Stunde vorher an, kurz bevor ich mich auf den Weg mache. Ich treffe es gut mit meinem Anruf, die FaGe befindet sich gerade bei I. und hält ihr den Telefonhörer ans Ohr. Mutter ist präsent, zeigt Freude und bedankt sich.

Bei meinem Eintreffen erkundigt sie sich, wo ich sie denn gefunden hätte, da sie nicht in ihrem Zimmer sei. Aha. Mutter weilt also wieder in einer anderen Dimension. Zum Muttertag hat das Alterszentrum einen Brunch mit Buffett organisiert. Die FaGe erkundigt sich bei I. nach Ihren Gelüsten. I. kann sich nicht recht zu einer Auswahl entscheiden. Zu Spiegelei, Fleischkäse, etwas Rösti und zum Dessert «Crème brûlée» sagte sie schliesslich ja. 
Als wir mit den Speisen zurückkommen, hält sich ihre Begeisterung in Grenzen. Dafür verlangt sie nach Brot, was ich nochmals unten holen muss. Die FaGe muss Medikamente ausgeben, bevor sie der Mutter beim Essen helfen kann. Oft habe ich in den letzten Wochen erlebt, dass Mutter es schätzte, wenn ich ihr die Speisen eingebe. Doch heute schaltet sie stur auf Widerstand und äussert alle möglichen Zusatzwünsche. Unser Essen wird kalt, was Mutter nicht stört, weil es ja eh immer kalt sei. Ich merke, wie ich an meine Grenzen komme. Die Szene erinnert mich an den heutigen Beitrag einer Mutter auf «Twitter»: «Der Sohn hat zum Muttertag eine neue Choreografie für den morgendlichen Trotzanfall einstudiertBin ganz bewegt.» Im Gegensatz dazu bin ich nicht bewegt, sondern überfordert. Was vielleicht ja auch eine Form von Bewegtsein wäre
Als die FaGe kommt, um beim Essen behilflich zu sein, isst Mutter lammfromm alles, was ihr angeboten wird. ...

Später bittet sie mich, sie heimzubringen, da sie müde sei. Nach dem Ort ihres Daheims befragt, nennt sie zwei verschiedene frühere Adressen. Der FaGe erklärt sie, dass ich sie nicht heimfahren wolle und diese darum ein Taxi bestellen solle. Diese Bemerkung trifft mich so tief, dass ich einen Moment gegen die Tränen kämpfen muss.

Zum Abschied zeigt mir Mutter die kalte Schulter. Das Schlimme daran dünkt mich, dass ich nicht weiss, ob sie das ernst meint.

Die FaGe erzählt mir, dass Mutter fast täglich darum bitte, sie solle mich anrufen, ich würde sie schon nach Hause fahren.

Auf der Heimfahrt wird mir plötzlich klar, welch tiefgreifende Auswirkungen eine Äusserung aus meinem Kindermund bis zum heutigen Tag hat. Ich war viereinhalb Jahre alt, als mein Bruder zur Welt kam. Mutter erlitt eine Schwangerschafts-Vergiftung, die sie für fast die ganze Dauer der Schwangerschaft mit Übelkeit und Erbrechen (den Galle-Geruch habe ich heute noch in der Nase) ans Bett fesselte, und die dazu führte, dass Mutter die letzten Wochen fern der Familie in der Nähe der Geburtsklinik verbringen musste. Als sie mit dem Säugling nach Hause kam, soll ich einige Tage später gesagt haben «Gäll, dë bringed mer wieder zrugg.» Eine Bemerkung, die Mutter damals offenbar so tief kränkte, dass sie mir diese bis zum heutigen Tag nachträgt, was erst etwa vor 2 Jahren zufällig ans Tageslicht kam.

Gespürt habe ich die plötzlich aufgetauchten, mir unerklärlichen Ressentiments meiner Mutter mein ganzes Leben lang. Bis heute ist es so, dass mir I. bei allen sie betreffenden Entscheidungen oder Handlungen eine negative Absicht unterstellt. Es ist eine wiederkehrende, verletzende, schmerzhafte Erfahrung, bestimmt auch für Mutter. Leider ist es weder mir noch der früheren Heimleiterin gelungen, I. von der harmlosen Normalität meiner kindlichen Reaktion auf die Geburt eines Geschwisters zu überzeugen. 
Der Gedanke, dass Mutter mit diesem Missverständnis im Herzen ihr Leben beenden muss, macht mich traurig. Obgleich ich klar weiss, dass ich dafür nicht verantwortlich bin, fühle ich mich ohnmächtig und ausgeliefert.