Montag, 12. Januar 2015

Das Ballkleid

21.8.2014

Um 14:50 Uhr hinterlässt mir die Stationsleiterin auf der Combox, dass Mutter seit heute Vormittag schon mehrmals kleine Atemaussetzer gehabt habe. Die Situation sei nicht dramatisch, aber eine deutliche Verschlechterung gegenüber den letzten Tagen. Ausserdem bittet sie um Erlaubnis, zwei, drei T-Shirts am Rücken aufschneiden zu dürfen, damit man I. nicht so oft umdrehen müsse bei Körperpflege und Anziehen. Sie bittet um Rückruf. Infolge eines Telefondefekts an ihrer Linie kann ich sie jedoch nicht erreichen. 
Ich beschliesse darum Programmänderung und Besuch im Pflegeheim.

Kurz vor 17 Uhr treffe ich die Stv. der Heimleiterin. Sie hat am Nachmittag einen Augenschein genommen und bestätigt die Informationen der Stationsleiterin. Dann erwähnt sie einen Eintrag im Dossier aus dem Jahr 2010. Demnach wünsche Mutter als «letztes Gewand» ein Ballkleid. Ich kann das nicht glauben, worauf wir miteinander den entsprechenden Eintrag anschauen. Tatsächlich steht unter «Welche Kleidung wünschen Sie als letztes Gewand?» «Mein Ballkleid!» ... Beim Lesen der weiteren Aussagen, die meine Mutter damals gegenüber einer Pflegeperson gemacht hatte, wird mir klar: Mutter gab auf verschiedene Fragen überspitzte Antworten. Gerade so, als habe sie die Angestellte auf den Arm genommen... War offenbar nicht ihr Tag, damals.... 
Indessen ist mir diese Episode Anregung, mich sobald als möglich um die wirklich letzten Kleider für I. zu kümmern.

Mutter atmet ruhig und regelmässig. Sie ist wach und so klar wie schon lange nicht mehr. Das Absetzen des Parkinson-Medikamentes tut ihrem Geist offenbar gut. Etwas «Coupe au Kirsch» nimmt sie gerne, doch scheint ihr selbst Eiscreme Schwierigkeiten beim Schlucken zu machen. «Würdest Du mir bitte beim Packen helfen?» bittet sie mich unvermittelt zwischen zwei Löffeln Glacé. «Ja klar!» antworte ich «Sobald wir mit dem Coupe fertig sind.» Mutter döst ein und ich mache mich am Kleiderschrank zu schaffen. «Bitte nimm den roten Koffer» weist Mutter mich an, was ich bestätige.

Ich suche das schönste Shirt in Orange-Tönen heraus, welches so gut zu Mutters Teint passte, ein hübsches Unterhemd, eine schwarze Hose sowie weisse Socken und ihre weisse Lieblingsjacke. Alles zusammen hänge ich an einen Bügel mit einem Post-it beschriftet: «Letztes Gewand».Gleichzeitig lege ich für die Pflege noch einige ältere Shirts bereit, die am Rücken aufgeschnitten werden dürfen. Auch sie schreibe ich mit Post-it an.

«Mami, alles ist bereit und gepackt. Du musst Dir keine Sorgen machen!» «Danke, ich bin so froh, dass ich Dich habe.» I. möchte dösen und die Tagesschau hören, ich verabschiede mich.

Zufrieden informiere ich im Flur die Pflegehelferin. Diese betritt das Zimmer mit einem Aufschrei: «Nein, doch nicht jetzt schon!» Dann hängt sie die bereitgemachten Kleidungsstücke in den Schrank zurück. Und ich frage mich, aus welchen Gründen hier einzelne Angestellte so angstvoll auf das Sterben reagieren.