I. und R. lebten sich mehr oder weniger gut ein im Pflegeheim. Wir Kinder fühlten uns dort sehr wohl, irgendwie ebenfalls
geborgen. Auf alle Fälle wussten wir die Eltern gut aufgehoben und kompetent gepflegt. Eine
grosse Erleichterung nach den aufwühlenden Erfahrungen vergangener Monate.
Das enge
Zusammenleben mit den doch sehr unterschiedlichen Bedürfnissen bedeutete für die hochbetagten Eheleute trotzdem
jeden Tag eine neue, grosse Herausforderung. Heimleiterin und Pflegepersonal
halfen den beiden in liebevoller, verständnisvoller Art und Weise bei der
Bewältigung der
neuen Lebenssituation.
Als sich bei R. Anzeichen von Altersdemenz bemerkbar machten, bot die Heimleiterin den
Umzug in eines der wenigen, eben frei gewordenen Zimmer mit Verbindung zu einem
zweiten Zimmer an, damit sich wenigstens die Nächte etwas entspannter gestalten
liessen, da R.s Tages-/Nachtrhythmus einer eigenen Logik folgte.
Bedauerlicherweise brachte R. diesen Zimmerwechsel mit I.s früherer Scheidungsdrohung in Verbindung. Ein Missverständnis, das zu klären uns nicht mehr gelingen sollte.
R. erkrankte kurz darauf an einer Lungenentzündung, von der er sich nicht mehr
erholte.
Der Tod ihres
Gatten, mit dem I. — allen ihren Drohungen zum Trotz — in tiefster Liebe verbunden gewesen war, brachte den Tod ihres ersten
Kindes und jene unverarbeitete Trauer mit einem Schlag wieder ins Bewusstsein,
zusammen mit der Trauer um ihre früheren, gescheiterten Ehen. Auch dieses Mal
montierte Mutter ihren Schutzwall und liess nur ganz wenige Menschen hie und da
einen Blick «hinter die Kulissen» werfen. Aus den wenigen Gesprächen, die wir diesbezüglich miteinander führen konnten, entnahm ich, dass
Mutter bestrebt war, auch diesen Verlust tapfer zu überwinden.
Ihre Unnahbarkeit machte mir zu schaffen, war es doch auch für mich ein "déjà vu". So musste ich lernen, dass nicht ich dafür verantwortlich war, dass Mutter auch dieses Mal nicht mich meinte, sondern tief innen mit sich selber rang.
Hilfreich schien
dabei, dass sich ein Mitbewohner vermehrt um I. kümmerte. Durch die fortschreitende
Parkinson-Erkrankung verlor I. nach und nach die Kontrolle über Essbesteck und Handführung, was leider zu unangenehmen
Reaktionen am Esstisch führte. Der neue Kavalier zeigte sich nicht eben mutig und überliess I. ihrem Schicksal, das
heisst, der Verbannung vom geistig regen Mittagstisch weg, an den Tisch der "Bedürftigen", wo für die geistig wache Frau fortan leider keine gehaltvollen Gespräche mehr möglich waren.
Parkinson
beeinflusst nicht nur die bewegungssteuernden Nervenbahnen, sondern eben auch
Stimmbänder, Zunge,
Schluckmechanismen, Atmung. Deshalb sprechen die Erkrankten meist sehr leise
und zunehmend undeutlicher. Die Kommunikation wird immer schwieriger. Eine
leidvolle Entwicklung für Erkrankte wie für ihr Umfeld.
Eines schönen Tages im Sommer 2012 wurde die
sehr kompetente und beliebte Heimleiterin aus politischen Gründen nullkommaplötzlich freigestellt, ohne dass sie
Bewohnende, Angestellte oder Angehörige hätte informieren oder sich von ihnen hätte verabschieden dürfen.
Ein Schock, der
sich nicht nur bei meiner Mutter bis heute auswirkt. Denn in der Folge wurde
statt einer Pflegefachperson ein Ökonom mit der Heimleitung betraut, was zum
Abgang fast des ganzen Personalkörpers führte. Die neuen Kräfte waren deutlich weniger
qualifiziert, dafür konnten angeblich die Personalkosten gesenkt werden. Überflüssig zu erwähnen, dass gleichzeitig die
Pensionspreise (nach oben) angepasst wurden.
Es kam zu ersten
Pflege-Übergriffen, die meine Interventionen bei der Ombudsfrau wie später bei der kantonalen
Gesundheitsdirektion nötig machten. Ein Weg, der sich wiederholen sollte und der in der Folge
auch von mehreren anderen Angehörigen beschritten werden musste. Erst nachdem viel Geschirr zerschlagen
und das Vertrauen nachhaltig zerstört war, reagierten die politisch zuständigen Gremien. Derzeit versucht
sich ein auch im Pflegefach versierter Geschäftsführer zusammen mit (immer noch rege
wechselnden) Pflegefachleuten in der (immer noch politisch vorgegebenen) Quadratur des Kreises.
I. ist
inzwischen körperlich schwerst pflegebedürftig geworden und für alles und jedes auf Hilfe
angewiesen. Auch das Ein- oder Ausschalten des Fernsehers ist nicht mehr möglich. Erblindet und fast ganz gelähmt, sind für Mutter auch Schlucken und Sprechen
sehr beschwerlich und anstrengend geworden.
Umso härter trifft es sie und mich, wenn
inkompetentes, überfordertes Personal Dienst hat. Denn deshalb kommt es auch heute noch
immer wieder einmal zu Übergriffen und folgeschweren Pflegefehlern.
Seit Anfang 2014
wird auch in der Aktivierung kräftig gespart: Zwar wurden die
Gruppenaktivitäten ein wenig ausgebaut, dafür müssen jetzt all jene Pensionäre, die nicht mehr an solchen Anlässen teilnehmen können, auf die ihnen zustehenden (und im Pensionspreis inbegriffenen) Anregungen verzichten. Auch die hoch geschätzte, seelsorglich versierte «Badefachfrau» wurde kostensparend
wegrationalisiert, weil es ja keine spezielle Ausbildung braucht, um alte, körperlich und seelisch gebrechliche Menschen (z.B. mit dem
Kran) baden zu können...
Für die geistig immer noch ziemlich rege I. bedeutet dies, dass sie ausser den
selten gewordenen Besuchen von Bekannten und den meist unter Zeitdruck stehenden
Begegnungen mit den Pflegenden keine geistigen Anregungen mehr erhält. Kostensparend wird ihr dafür — oft auch ungefragt («Damit sie sich nicht so allein fühlt.») — der Fernseher eingeschaltet!