13.8.2014
In der Zwischenzeit hat sich I. wieder aufgefangen, das heisst, sie
scheint weiter zu kämpfen. Jedenfalls lässt sie sich regelmässig zum
gemeinsamen Mittagessen in ihrer Etage führen, wo sie noch wenig zu sich nimmt.
Auf der Apotheker-Rechnung finde ich mehrmals die Position
«Energy-Drink». Die Nachfrage auf der Station ergibt, dass die Pflegefachfrauen der
Meinung sind, damit die Heilung des Dekubitus zu fördern. Aus verschiedenen
Gründen habe ich Vorbehalte gegenüber dieser eigenmächtigen, teuren
Zusatznahrung und bitte um Besprechung mit dem Arzt, der ein Rezept ausstellen
soll.
Ich höre nichts mehr, ausser dass Mutter erzählt, sie habe wenige Male «öppis
Gruusigs» zum Trinken erhalten, das sie fast nicht habe schlucken können.
Ausserdem habe es ihr total den Hunger genommen.
Einmal erhalte ich von Mutter den Auftrag, ihr eine schöne 1 1/2 -
Zimmer-Wohnung zu suchen, mit Badewanne und Küche, damit sie wieder baden und
selber kochen könne.
Ein andermal — ich lese I. gerade aus der Zeitung vor, dass die
Stiefschwester ihres Vaters kurz vor ihrem 99. Geburtstag in unserem Bergdorf
verstorben ist — bittet sie mich, ihren Transport ins neu erbaute Pflegeheim im
Bergdorf zu organisieren. «Welche Verbesserungen versprichst Du Dir von diesem
Umzug?» versuche ich zu ergründen. «Dort kann ich dann so schön wieder um den
See spazieren.» Dieser See hat eine spezielle Bedeutung in unserer Familie.
Mutter hat nicht nur viele unserer Schlüttlis auf einem der Promenade-Bänklein
gestrickt, sondern vor allem mich als «Poppi» täglich im Kinderwagen und auf
dem Schlitten um diesen bekannten See gefahren. «Da müsstest Du wieder gehen können,
Mami.» «Ich laufe doch jeden Tag ganz viel herum! Das ist kein Problem!» — «Du
kannst selber gehen?» frage ich nach, denn ihre Beine sind spastisch
angewinkelt und seit längerem versteift. «Natürlich, was glaubst Du denn?!»…
Wieder einmal wünschte ich ein optisches Signal, welches mir anzeigen könnte,
in welcher geistigen Dimension Mutter sich gerade aufhält.
Zum Abschied hole ich meinen Welpen und ermögliche Mutter einen kurzen
körperlichen Kontakt mit dem kleinen Feger. Dieser reagiert freudig interessiert
auf den neuen Kontakt. Trotzdem halte ich diesen Kontakt kurz. Mutter freut sich
sichtbar, als ich ihre Hand über das seidige Fell des Hundes führe. «Ganz en Härzige!»
kommentiert sie. «Muesch em Sorg hebe!»
Heute fegt ein heftiger Sturm über das Mittelland. Beim Eintreten ins
Zimmer grüsse ich wie immer. «Wer isches?» «Ich bin es, R.» «Weissi dänk scho!»
Es ist 17:45 Uhr, auf dem Nachttisch stehen die fast unberührte
Zvieri-Trinkschokolade (inzwischen kalt) und etwas Rivella. Der andere
Beistelltisch ist mit einer Waschschüssel mit Wasser und diversen
Pflege-Utensilien belegt.
Mutter trinkt 30ml Schoggi aufs Mal, eine für sie grosse Menge, was
zeigt, dass sie durstig ist. Jedes Mal, wenn ich ihr zu Trinken anbiete, nimmt
sie dann gerne einen oder zwei Schlucke.
Das Sprechen scheint ihr schwer zu fallen; vor allem kann sie nicht mehr
deutlich artikulieren. Das bedeutet, dass wir uns unterhalten, obwohl ich öfter
keine Ahnung habe, worum es geht. Hin und wieder zeigt sich das
Missverständnis; dann müssen wir beide lachen. In gewissen Momenten findet I.
es jedoch nicht lustig, was ich so gut verstehen kann — jedes Mal nachfragen
scheint mir jedoch auch keine Option.
«Du hast mich eben beim Packen unterbrochen, jetzt müssen wir vorwärts
machen!» «Beim Packen? Was packst Du und wozu?» will ich wissen. «Die braune
und die weisse Handtasche und noch die schwarze Reisetasche… sie stehen dort»
zeigt sie mit dem Finger in die Luft. «Hilfst Du mir dabei?» «Ja klar, ich
packe Dir.» «Bin froh, danke.»
Dazwischen bringt die Pflegefachfrau Medikamente und überreicht mir das
Formular «Zwangsmassnahmen» zur Unterschrift. Sichtlich unwohl in ihrer Haut
erklärt mir die Gute, dass sie festgestellt habe, dass das benötigte Einverständnis
fehle, damit sie I. mit dem «Klemm-Tischchen» im Rollstuhl festmachen und das
Bettgitter hochziehen dürften. Ich bin ziemlich konsterniert, denn beides wird
seit Februar regelmässig gemacht. Zum Glück, denn sonst wäre I. ja jüngst
wieder aus dem Rollstuhl gefallen, als sie stundenlang sitzen gelassen wurde, kollabierte und die Glocke nicht funktionierte…
Ich gebe meine Zustimmung unter dem Vorbehalt, dass Mutter nicht mehr
stundenlang im Rollstuhl sitzen muss; die Pflegefachfrau ist gleicher Meinung.
Später erzählt mir Mutter, dass ein langjähriger Freund einmal gesagt
habe, sie könne jederzeit zu ihm kommen. Oha, da sind wir wieder an unserem
heiklen Punkt angelangt: Mutters Erwartung, jemand würde sie zu sich nehmen,
damit sie dem Pflegeheim entrinnen könne.
Zum Glück erscheint da die Pflege-Assistentin mit dem Znacht: Etwas
Griessbrei mit Nutella (was Mutter als «Zucker und Zimt» verkauft wird),
Konfibrot und Kaffee.
Während der Essenseingabe geht der Alarm, die Pflegefrau rennt davon.
Als sie zurückkommt, scheint sie unkonzentriert und etwas aufgewühlt, denn die
von ihr sonst gewohnte Präsenz im Handeln am Bett scheint zu fehlen. So
serviert sie den Znacht sofort ab, als Mutter sagt, sie habe genug Griessbrei
gegessen; leider ohne ihr zu sagen, dass da noch Konfibrot wäre.
Als ich der Pflegerin das unterzeichnete Formular übergebe, schlägt sie
vor, mir die neue Stationsleiterin, vorbeizuschicken, so könne ich den
Sachverhalt gleich am richtigen Ort deponieren.
Prompt fragt Mutter wenig später, wann denn jetzt das Nachtessen komme,
sie habe Hunger. Wie immer, ist I. nach der Einnahme der Parkinson-Medikamente
geistig und körperlich sehr rege. Sie erzählt andauernd, ich verstehe leider
kein einziges Wort…
Die neue Stationsleiterin klärt mich ungefragt und sehr
selbstbewusst über ihre fachlichen Kompetenzen auf (namentlich in der
Dekubitus-Behandlung), zeigt mir die neue Ordnung, die sie in Mutters
Büchergestell für die Ausbreitung der verschiedenen Pflegeutensilien geschaffen
hat, und will mich so davon überzeugen, dass sie alles fest im Griff habe, und
dass jetzt alles besser werden wird. Schön. Mit dem Hinweis auf die
verrechneten «Energy-Drinks» mache ich die Probe aufs Exempel. Offensichtlich
weiss die Frau nichts von dieser teuren Zusatznahrung. Sie will der Sache
nachgehen und mit der Heimleiterin besprechen. Dann erklärt sie, aufgrund ihrer
Erfahrung seien diese Drinks zur Wundheilung wie sie hier vorliege völlig
ungeeignet. Ausserdem seien diese Drinks selbst für nicht-schluckgehemmte
Patienten ganz schwierig einzunehmen.
Dann übergebe ich ihr das ausgefüllte und unterzeichnete Formular: «Ich
bin einverstanden mit dem Klemmtisch, wenn Mutter in ihrer jetzigen Situation
nur kurzfristig im Rollstuhl sitzt und nicht allein gelassen wird.» (Wir
sprechen im Zimmer, weshalb ich meine Worte mit Bedacht wähle.) «Ja schon, aber
für die Mobilisierung von Ihrer Mutter ist es gut, wenn sie auch in die
Senkrechte kommen kann, wegen der Lunge und für den Stoffwechsel. Das haben wir
auch in der Langzeitpflege immer so gemacht!» belehrt mich die neue
Stationsleiterin und fährt resolut fort: «So 1-2 Std., vielleicht auch einmal 2
1/2 Std. sollte sie aushalten können. Mehr schon nicht, das ist klar.» — Mich
ergreift ein Schaudern, ich bin sprachlos! Wut und Ärger kommen hoch. Trotzdem
gelingt es mir, dieses Gespräch höflich zu beenden. — Kommt Zeit, kommt Rat…
«Mami, hast Du gehört, was wir eben da besprochen haben?» «Ja, aber
nicht alles.» «Ich habe zugestimmt, dass man Dich, wenn Du jeweils einverstanden
bist, für kurze Zeit in den Rollstuhl setzt und dann dieses Klemmtischchen
festmacht, damit Du nicht herausfallen kannst. Und, dass sie die Bettgitter
hochziehen dürfen, damit Du nachts oder wenn Du ganz an der Kante liegst nicht
aus dem Bett fallen kannst. Ich habe verboten, dass man Dich stundenlang allein
im Rollstuhl sitzen lässt.» Mutter nickt, sie scheint einverstanden.
Die FaGe verspricht nochmals Konfibrot und ich verabschiede mich nach
gut 1 1/2 Stunden.
«Chunsch glii wieder, wännt echli meh Zyt häsch. — Heb Sorg und chumm
guet hei, ich ha nu Dich!» gibt Mutter mir mit auf den Weg.
18.08.2014
In
einer Mail habe ich mich — unter Bezugnahme auf das Formular «Zwangsmassnahmen»
und das Gespräch mit der Stationsleiterin — am Freitag, 15.8. an die
Heimleiterin gewendet und sie gefragt, ob sie unter solchen Umständen sterben möchte?
In
ihrer heutigen Mailantwort gibt mir die Heimleiterin in allen Punkten recht und
verspricht, mit der Stationsleiterin zu reden. Für diese ist es offenbar die
erste Stelle im palliativen Bereich. Zudem informiert sie mich über die
bevorstehende Arztvisite, wo sie die Erhöhung von Morphin anregen wollten, da
Mutters Schluckvermögen von Tag zu Tag weniger werde und zudem die verordnete
Reserve seit Tagen aufgebraucht wurde und nicht mehr reiche. Ich werde um mein
Einverständnis gebeten, das ich natürlich gebe. Frau W. versichert mir, dass
sich die Pflege nach den Bedürfnissen der Bewohner richten müsse, nicht nach
jenen des Personals.
Ich
vereinbare mit der Heimleiterin ein Gespräch im Laufe des Nachmittags, wenn ich
I. besuchen werde. W. informiert mich über ihr Gespräch mit der Stationsleiterin. Ihr gemeinsamer Vorschlag: Wenn Mutter aufstehen will — und nur dann! — wird
sie zum Mittagessen mobilisiert, welches ihr ab sofort erst um 12:15 Uhr
gereicht wird, damit dann eine Pflegeperson Zeit nur für sie allein hat. So könnte
I. etwa 1/2 Std. begleitet im Rollstuhl verbringen. Mit dieser Lösung bin ich
sehr einverstanden. Ferner hat der Arzt der subkutanen Injektion von Morphium
zugestimmt und auch genügend Reserve verordnet, damit I. schmerzfrei sein kann.
Mutters
Zustand hat sich seit letztem Mittwoch wesentlich verändert. «Schön, dass Du da
bist.» Flüstert sie mir ins Ohr. «Wie geht es Dir?» «Nicht so gut.» I. erzählt
mir vom Arztbesuch sowie von Spritzen,
keine Luft mehr bekommen, schier verstickt…, bevor Heimleiterin und
Stationsleiterin eintreten.
Zusammen
informieren wir Mutter über die Morphium-Injektionen und die Rollstuhl-Mittagessen-Lösung.
Ausserdem kommen wir am Bett gleich zum Beschluss, dass die Umlagerungen nur
mehr alle 4 Std. erfolgen. Müde signalisiert Mutter ihr Einverständnis.
Kaum
haben die beiden Pflegeleiterinnen den Raum verlassen, kommt die ehemalige
Aktivierungstherapeutin — inzwischen wegrationalisiert, weil für Aktive
ja sehr viel geboten wird und Bettlägerige eh keine Aktivierung mehr benötigen —
ebenfalls zu Besuch. Sie hatte jahrelang Mutter beste Seelsorge geboten. Weil mir diese Begegnung der
beiden Frauen ebenfalls wichtig ist, so lange Mutter noch ein paar Worte reden
kann und bei Bewusstsein ist, gehe ich mit dem Welpen spazieren und einkaufen.
Als
ich eine gute Stunde später wieder komme, hat I bereits die erste Injektion und
etwas zum Znacht bekommen. Sofort fällt mir auf, dass Mutters Körper wesentlich
ruhiger ist als sonst um diese Zeit. Abends, nach der Einnahme der Parkinson-Medikamente
war Mutter bisher stets körperlich stark in Bewegung und redete oft schier
pausenlos. Heute bewegten sich lediglich einzelne Finger der rechten Hand. «Wie
geht es Dir?» «Besser.» «Wie ist es mit den Schmerzen?» «Besser.» Ich nehme
einen Stuhl und setze mich ans Bett, wo ich still verweile. — «Wie geht es
Deiner Seele?» «Das verstehe ich nicht.» «Wie geht es Dir seelisch?» «Gut.» — «Ich
bin einfach nur sehr, sehr müde.»
Während
Mutter döst, lasse ich im stillen Dasitzen ihr Leben, soweit es mir bekannt
ist, vor allem ihre Highlights, vor meinem geistigen Auge vorüberziehen und
nehme diese friedvolle Stimmung, die den Raum heute erfüllt, in mich auf.
Als
ich mich nach etwa einer halben Stunde zum Gehen bereitmache, bittet mich
Mutter, die Tagesschau einzuschalten. Sie verabschiedet sich zweimal von mir «Fahr
guet — heb dr Sorg!» flüstert sie aus den Kissen, und überträgt mir herzliche
Grüsse an meinen Freund G.