Donnerstag, 4. September 2014

Zwangsmassnahmen

13.8.2014
In der Zwischenzeit hat sich I. wieder aufgefangen, das heisst, sie scheint weiter zu kämpfen. Jedenfalls lässt sie sich regelmässig zum gemeinsamen Mittagessen in ihrer Etage führen, wo sie noch wenig zu sich nimmt.

Auf der Apotheker-Rechnung finde ich mehrmals die Position «Energy-Drink». Die Nachfrage auf der Station ergibt, dass die Pflegefachfrauen der Meinung sind, damit die Heilung des Dekubitus zu fördern. Aus verschiedenen Gründen habe ich Vorbehalte gegenüber dieser eigenmächtigen, teuren Zusatznahrung und bitte um Besprechung mit dem Arzt, der ein Rezept ausstellen soll.
Ich höre nichts mehr, ausser dass Mutter erzählt, sie habe wenige Male «öppis Gruusigs» zum Trinken erhalten, das sie fast nicht habe schlucken können. Ausserdem habe es ihr total den Hunger genommen.

Einmal erhalte ich von Mutter den Auftrag, ihr eine schöne 1 1/2 - Zimmer-Wohnung zu suchen, mit Badewanne und Küche, damit sie wieder baden und selber kochen könne.
Ein andermal — ich lese I. gerade aus der Zeitung vor, dass die Stiefschwester ihres Vaters kurz vor ihrem 99. Geburtstag in unserem Bergdorf verstorben ist — bittet sie mich, ihren Transport ins neu erbaute Pflegeheim im Bergdorf zu organisieren. «Welche Verbesserungen versprichst Du Dir von diesem Umzug?» versuche ich zu ergründen. «Dort kann ich dann so schön wieder um den See spazieren.» Dieser See hat eine spezielle Bedeutung in unserer Familie. Mutter hat nicht nur viele unserer Schlüttlis auf einem der Promenade-Bänklein gestrickt, sondern vor allem mich als «Poppi» täglich im Kinderwagen und auf dem Schlitten um diesen bekannten See gefahren. «Da müsstest Du wieder gehen können, Mami.» «Ich laufe doch jeden Tag ganz viel herum! Das ist kein Problem!» — «Du kannst selber gehen?» frage ich nach, denn ihre Beine sind spastisch angewinkelt und seit längerem versteift. «Natürlich, was glaubst Du denn?!»… Wieder einmal wünschte ich ein optisches Signal, welches mir anzeigen könnte, in welcher geistigen Dimension Mutter sich gerade aufhält.
Zum Abschied hole ich meinen Welpen und ermögliche Mutter einen kurzen körperlichen Kontakt mit dem kleinen Feger. Dieser reagiert freudig interessiert auf den neuen Kontakt. Trotzdem halte ich diesen Kontakt kurz. Mutter freut sich sichtbar, als ich ihre Hand über das seidige Fell des Hundes führe. «Ganz en Härzige!» kommentiert sie. «Muesch em Sorg hebe!»



Heute fegt ein heftiger Sturm über das Mittelland. Beim Eintreten ins Zimmer grüsse ich wie immer. «Wer isches?» «Ich bin es, R.» «Weissi dänk scho!»
Es ist 17:45 Uhr, auf dem Nachttisch stehen die fast unberührte Zvieri-Trinkschokolade (inzwischen kalt) und etwas Rivella. Der andere Beistelltisch ist mit einer Waschschüssel mit Wasser und diversen Pflege-Utensilien belegt.
Mutter trinkt 30ml Schoggi aufs Mal, eine für sie grosse Menge, was zeigt, dass sie durstig ist. Jedes Mal, wenn ich ihr zu Trinken anbiete, nimmt sie dann gerne einen oder zwei Schlucke.

Das Sprechen scheint ihr schwer zu fallen; vor allem kann sie nicht mehr deutlich artikulieren. Das bedeutet, dass wir uns unterhalten, obwohl ich öfter keine Ahnung habe, worum es geht. Hin und wieder zeigt sich das Missverständnis; dann müssen wir beide lachen. In gewissen Momenten findet I. es jedoch nicht lustig, was ich so gut verstehen kann — jedes Mal nachfragen scheint mir jedoch auch keine Option.
«Du hast mich eben beim Packen unterbrochen, jetzt müssen wir vorwärts machen!» «Beim Packen? Was packst Du und wozu?» will ich wissen. «Die braune und die weisse Handtasche und noch die schwarze Reisetasche… sie stehen dort» zeigt sie mit dem Finger in die Luft. «Hilfst Du mir dabei?» «Ja klar, ich packe Dir.» «Bin froh, danke.»
Dazwischen bringt die Pflegefachfrau Medikamente und überreicht mir das Formular «Zwangsmassnahmen» zur Unterschrift. Sichtlich unwohl in ihrer Haut erklärt mir die Gute, dass sie festgestellt habe, dass das benötigte Einverständnis fehle, damit sie I. mit dem «Klemm-Tischchen» im Rollstuhl festmachen und das Bettgitter hochziehen dürften. Ich bin ziemlich konsterniert, denn beides wird seit Februar regelmässig gemacht. Zum Glück, denn sonst wäre I. ja jüngst wieder aus dem Rollstuhl gefallen, als sie stundenlang sitzen gelassen wurde, kollabierte und die Glocke nicht funktionierte…
Ich gebe meine Zustimmung unter dem Vorbehalt, dass Mutter nicht mehr stundenlang im Rollstuhl sitzen muss; die Pflegefachfrau ist gleicher Meinung.

Später erzählt mir Mutter, dass ein langjähriger Freund einmal gesagt habe, sie könne jederzeit zu ihm kommen. Oha, da sind wir wieder an unserem heiklen Punkt angelangt: Mutters Erwartung, jemand würde sie zu sich nehmen, damit sie dem Pflegeheim entrinnen könne.
Zum Glück erscheint da die Pflege-Assistentin mit dem Znacht: Etwas Griessbrei mit Nutella (was Mutter als «Zucker und Zimt» verkauft wird), Konfibrot und Kaffee.
Während der Essenseingabe geht der Alarm, die Pflegefrau rennt davon. Als sie zurückkommt, scheint sie unkonzentriert und etwas aufgewühlt, denn die von ihr sonst gewohnte Präsenz im Handeln am Bett scheint zu fehlen. So serviert sie den Znacht sofort ab, als Mutter sagt, sie habe genug Griessbrei gegessen; leider ohne ihr zu sagen, dass da noch Konfibrot wäre.
Als ich der Pflegerin das unterzeichnete Formular übergebe, schlägt sie vor, mir die neue Stationsleiterin,  vorbeizuschicken, so könne ich den Sachverhalt gleich am richtigen Ort deponieren.

Prompt fragt Mutter wenig später, wann denn jetzt das Nachtessen komme, sie habe Hunger. Wie immer, ist I. nach der Einnahme der Parkinson-Medikamente geistig und körperlich sehr rege. Sie erzählt andauernd, ich verstehe leider kein einziges Wort…

Die neue Stationsleiterin klärt mich ungefragt und sehr selbstbewusst über ihre fachlichen Kompetenzen auf (namentlich in der Dekubitus-Behandlung), zeigt mir die neue Ordnung, die sie in Mutters Büchergestell für die Ausbreitung der verschiedenen Pflegeutensilien geschaffen hat, und will mich so davon überzeugen, dass sie alles fest im Griff habe, und dass jetzt alles besser werden wird. Schön. Mit dem Hinweis auf die verrechneten «Energy-Drinks» mache ich die Probe aufs Exempel. Offensichtlich weiss die Frau nichts von dieser teuren Zusatznahrung. Sie will der Sache nachgehen und mit der Heimleiterin besprechen. Dann erklärt sie, aufgrund ihrer Erfahrung seien diese Drinks zur Wundheilung wie sie hier vorliege völlig ungeeignet. Ausserdem seien diese Drinks selbst für nicht-schluckgehemmte Patienten ganz schwierig einzunehmen.
Dann übergebe ich ihr das ausgefüllte und unterzeichnete Formular: «Ich bin einverstanden mit dem Klemmtisch, wenn Mutter in ihrer jetzigen Situation nur kurzfristig im Rollstuhl sitzt und nicht allein gelassen wird.» (Wir sprechen im Zimmer, weshalb ich meine Worte mit Bedacht wähle.) «Ja schon, aber für die Mobilisierung von Ihrer Mutter ist es gut, wenn sie auch in die Senkrechte kommen kann, wegen der Lunge und für den Stoffwechsel. Das haben wir auch in der Langzeitpflege immer so gemacht!» belehrt mich die neue Stationsleiterin und fährt resolut fort: «So 1-2 Std., vielleicht auch einmal 2 1/2 Std. sollte sie aushalten können. Mehr schon nicht, das ist klar.» — Mich ergreift ein Schaudern, ich bin sprachlos! Wut und Ärger kommen hoch. Trotzdem gelingt es mir, dieses Gespräch höflich zu beenden. — Kommt Zeit, kommt Rat…

«Mami, hast Du gehört, was wir eben da besprochen haben?» «Ja, aber nicht alles.» «Ich habe zugestimmt, dass man Dich, wenn Du jeweils einverstanden bist, für kurze Zeit in den Rollstuhl setzt und dann dieses Klemmtischchen festmacht, damit Du nicht herausfallen kannst. Und, dass sie die Bettgitter hochziehen dürfen, damit Du nachts oder wenn Du ganz an der Kante liegst nicht aus dem Bett fallen kannst. Ich habe verboten, dass man Dich stundenlang allein im Rollstuhl sitzen lässt.» Mutter nickt, sie scheint einverstanden.

Die FaGe verspricht nochmals Konfibrot und ich verabschiede mich nach gut 1 1/2 Stunden.
«Chunsch glii wieder, wännt echli meh Zyt häsch. — Heb Sorg und chumm guet hei, ich ha nu Dich!» gibt Mutter mir mit auf den Weg.


18.08.2014
In einer Mail habe ich mich — unter Bezugnahme auf das Formular «Zwangsmassnahmen» und das Gespräch mit der Stationsleiterin — am Freitag, 15.8. an die Heimleiterin gewendet und sie gefragt, ob sie unter solchen Umständen sterben möchte?

In ihrer heutigen Mailantwort gibt mir die Heimleiterin in allen Punkten recht und verspricht, mit der Stationsleiterin zu reden. Für diese ist es offenbar die erste Stelle im palliativen Bereich. Zudem informiert sie mich über die bevorstehende Arztvisite, wo sie die Erhöhung von Morphin anregen wollten, da Mutters Schluckvermögen von Tag zu Tag weniger werde und zudem die verordnete Reserve seit Tagen aufgebraucht wurde und nicht mehr reiche. Ich werde um mein Einverständnis gebeten, das ich natürlich gebe. Frau W. versichert mir, dass sich die Pflege nach den Bedürfnissen der Bewohner richten müsse, nicht nach jenen des Personals.

Ich vereinbare mit der Heimleiterin ein Gespräch im Laufe des Nachmittags, wenn ich I. besuchen werde. W. informiert mich über ihr Gespräch mit der Stationsleiterin. Ihr gemeinsamer Vorschlag: Wenn Mutter aufstehen will — und nur dann! — wird sie zum Mittagessen mobilisiert, welches ihr ab sofort erst um 12:15 Uhr gereicht wird, damit dann eine Pflegeperson Zeit nur für sie allein hat. So könnte I. etwa 1/2 Std. begleitet im Rollstuhl verbringen. Mit dieser Lösung bin ich sehr einverstanden. Ferner hat der Arzt der subkutanen Injektion von Morphium zugestimmt und auch genügend Reserve verordnet, damit I. schmerzfrei sein kann.

Mutters Zustand hat sich seit letztem Mittwoch wesentlich verändert. «Schön, dass Du da bist.» Flüstert sie mir ins Ohr. «Wie geht es Dir?» «Nicht so gut.» I. erzählt mir vom Arztbesuch sowie von  Spritzen, keine Luft mehr bekommen, schier verstickt…, bevor Heimleiterin und Stationsleiterin eintreten.
Zusammen informieren wir Mutter über die Morphium-Injektionen und die Rollstuhl-Mittagessen-Lösung. Ausserdem kommen wir am Bett gleich zum Beschluss, dass die Umlagerungen nur mehr alle 4 Std. erfolgen. Müde signalisiert Mutter ihr Einverständnis.

Kaum haben die beiden Pflegeleiterinnen den Raum verlassen, kommt die ehemalige Aktivierungstherapeutin  — inzwischen wegrationalisiert, weil für Aktive ja sehr viel geboten wird und Bettlägerige eh keine Aktivierung mehr benötigen — ebenfalls zu Besuch. Sie hatte jahrelang Mutter beste Seelsorge geboten. Weil mir diese Begegnung der beiden Frauen ebenfalls wichtig ist, so lange Mutter noch ein paar Worte reden kann und bei Bewusstsein ist, gehe ich mit dem Welpen spazieren und einkaufen.
Als ich eine gute Stunde später wieder komme, hat I bereits die erste Injektion und etwas zum Znacht bekommen. Sofort fällt mir auf, dass Mutters Körper wesentlich ruhiger ist als sonst um diese Zeit. Abends, nach der Einnahme der Parkinson-Medikamente war Mutter bisher stets körperlich stark in Bewegung und redete oft schier pausenlos. Heute bewegten sich lediglich einzelne Finger der rechten Hand. «Wie geht es Dir?» «Besser.» «Wie ist es mit den Schmerzen?» «Besser.» Ich nehme einen Stuhl und setze mich ans Bett, wo ich still verweile. — «Wie geht es Deiner Seele?» «Das verstehe ich nicht.» «Wie geht es Dir seelisch?» «Gut.» ­— «Ich bin einfach nur sehr, sehr müde.»
Während Mutter döst, lasse ich im stillen Dasitzen ihr Leben, soweit es mir bekannt ist, vor allem ihre Highlights, vor meinem geistigen Auge vorüberziehen und nehme diese friedvolle Stimmung, die den Raum heute erfüllt, in mich auf.

Als ich mich nach etwa einer halben Stunde zum Gehen bereitmache, bittet mich Mutter, die Tagesschau einzuschalten. Sie verabschiedet sich zweimal von mir «Fahr guet — heb dr Sorg!» flüstert sie aus den Kissen, und überträgt mir herzliche Grüsse an meinen Freund G.