Sonntag, 15. Juni 2014

Entre Act — Bleibt am Schluss nur der «Bilanz-Suizid»?

Es geht mir im Blog absolut nicht um meine Psychohygiene — dazu müsste ich ihn nicht veröffentlichen. Nein, es geht mir darum, Bewusstsein zu schaffen, damit auch jene Menschen wissen, wie sich unsere «Gesundheitspolitik» auswirkt, die im Moment noch nicht selber betroffen sind. Solange Missstände totgeschwiegen werden, ändert sich nichts! 

Die heute im Pflegeheim meiner Mutter herrschenden Zustände sind umso schmerzlicher zu ertragen, als gerade dieses Heim bis 2012 zu den herausragend geführten Pflegeheimen zählte!
Das, was heute hier geschieht, geschieht aus rein politischen Gründen. Dass es auch anders gehen könnte, dafür gibt es glücklicherweise viele Einzelbeispiele. Diese sind jedoch für meine Mutter und alle solchermassen ausgelieferten Bewohner kein Trost. Im Gegenteil.

Für mein Empfinden
  • Ist es menschenunwürdige Folter, wenn ein gelähmter, erblindeter Mensch über mehrere Stunden vor Getränken sitzen muss, die er alleine nicht erreichen kann.
  • Ist es Misshandlung, wenn dieser Mensch, der ja seine Sitzposition nicht alleine verändern kann, mit einem grossen, offenen Dekubitus am Steissbein mehrere Stunden in seinem Rollstuhl ausharren muss, noch dazu ohne Polsterung durch ein spezielles Sitzkissen.
Eine Frage der Ethik bleibt es so oder so.

Zugegeben, die Pflege eines seelisch und körperlich fragil gewordenen, hochbetagten Menschen ist aufwendig und zuweilen auch anstrengend. Gerade darum lebt er ja in einer professionellen Institution, von der wir erwarten müssen, dass sie — nicht nur ökonomisch straff, sondern menschlich gut geführt — ausgewiesene, gut ausgebildete und charakterlich integre, empathische Fachleute mit der Pflege betraut.

Die sharholdervalue-geprägte Sparwut, die in den letzten Jahren unter dem populistisch wirksamen Titel «Verursacherprinzip» in allen Bereichen unseres Lebens Einzug hielt, zeigt heute besonders in der Geriatrie ihre menschenverachtende Fratze. Darunter zu leiden haben ausgerechnet jene Menschen, für welche die Generationen unserer Grosseltern und Eltern entsprechende soziale Institutionen geschaffen hatten. Notabene mit viel weniger Geld, als uns heute zur Verfügung steht und unter viel grösseren finanziellen Opfern, als sie uns heute abverlangt werden.
Ganz besonders stossend empfinde ich es, dass es genau diese Generation ist, die sich die Altersvorsorge und –versorgung am Mund abgespart hatte, die — jetzt hilflos und bedürftig geworden — unter jenen Zuständen zu leiden hat, die sie ursprünglich verhindern wollte!

Umso heuchlerischer und anmassender mutet das Geschrei jener Moralisten an, die nicht müde werden, in der aktuellen, wichtigen Diskussion um den altersbedingten «Bilanz-Suizid» (welch ein menschenverachtender Begriff! —Mein persönliches Unwort des Jahres!), die sogenannte «Palliative Pflege» zu loben, mit der es heutzutage für alle Menschen zumutbar geworden sei, die auferlegten Lasten von Alters- und Krankheitsbeschwerden gottgewollt zu ertragen!
Keine Frage: Die Gefahr, dass die diskutierte Möglichkeit aufgrund des zunehmenden gesellschaftspolitischen (Kosten-)Drucks zum individuellen Müssen mutiert, ist im heutigen Zustand der fortlaufenden, sharholdervalue-orientierten, lieblosen Entsolidarisierung nicht von der Hand zu weisen.

Aus verschiedenen Gründen bin ich grundsätzlich keine Befürworterin von Suiziden. Trotzdem erscheint mir heute, mit 62 Jahren und im Blick auf das eigene Altwerden, die in jungen Jahren lebenslänglich abgeschlossene Mitgliedschaft bei EXIT als ein wenigstens tröstlicher Silberstreifen am Horizont. Bleibt zu hoffen, dass mir eine solche letale Entscheidung erspart bleiben möge...

Als humanistisch aufgeklärte Gesellschaft sind wir daran, inbezug auf Menschenleben ein gefährliches Terrain zu betreten. Diesbezüglich zeigen auch Quervergleiche mit pränatalen Voruntersuchungen und der Auswahl «würdiger» Embryonen zu verschiedenen Zwecken in eine erschreckende Richtung!
Anfang und Ende eines Menschenlebens drohen zur gesellschaftspolitisch planbaren Manipulationsmasse zu verkommen...

Ein berühmter Denker drückte es einmal so aus: «Das, was die Menschheit den Tieren antut, tut sie früher oder später auch den Menschen an. Vermutlich eher früher als später.» —

Montag, 9. Juni 2014

Grenzwertiges, Ethik, Übergriffe und die Politik

Vom Eintritt der Eltern ins Pflegeheim im Oktober 2008 bis Juni 2012 war ich überzeugt, den allerbesten denkbaren Pflegeplatz gefunden zu haben. Inzwischen weiss ich, wie rasch sich auch hier alles in sein Gegenteil verwandeln kann...!

Aus den Medien und von Bekannten hörte ich immer wieder von Übergriffen, denen Bewohner in Alters- und Pflegeheimen seitens der FaGe ausgeliefert seien. Nach dem die bewährte, kompetente Heimleiterin in einer Nacht- und Nebelaktion (die bis heute nicht aufgearbeitet wurde) entlassen und durch einen höchst umstrittenen Ökonomen als Geschäftsführer mit äusserst weitreichenden Kompetenzen ersetzt worden war, sollten auch wir zu spüren bekommen, was «Sparen» und «Spardruck» im Pflegebereich bedeutet.

Mutter konnte damals noch selber essen. Allerdings benötigte sie dazu wesentlich mehr Zeit, als dies ein gesunder Mensch braucht. Und beim Essen benötigte sie auch insofern Unterstützung, als das Aufladen der Speisen auf Löffel oder Gabel für sie (erblindet und an Parkinson erkrankt) nicht ganz einfach war. Eines Tages berichtete sie davon, dass ihr heute der neue Pfleger das Essen wiederholt ungefragt in den Mund stopfte, obwohl sie noch nicht fertig gekaut und hinuntergeschluckt habe. Sie sei beinahe erstickt, weil sie nicht so viel aufs Mal schlucken könne. Mutter flehte mich an, nichts zu sagen, sie wolle sich selber wehren.
Dieser Bericht wiederholte sich, so dass ich die mir als sehr kompetente Stationsleiterin bekannte Frau S. informierte. Diese bestätigte die Berichte meiner Mutter und fügte an, dass der neue FaGe vom GF ausgewählt wurde und noch in der Probezeit sei und dass sie den GF über diesen und weitere Übergriffe dieses Mannes informiert und seine Entlassung verlangt habe. Der GF habe jedoch bisher nicht reagiert.

Es brauchte von mir und anderen Angehörigen (die noch von weiteren Übergriffen zu berichten wussten) Interventionen an die kantonale Gesundheitsdirektion, bis der fragliche Pfleger endlich entlassen wurde.

Wie an allen Orten, wo mit dem eisernen Ökonomie-Besen reorganisiert wird, verliessen auch hier fast alle qualifizierten Mitarbeitenden das Haus. Wer sich wehrte oder den einschneidenden Massnahmen andere Ideen entgegensetzte, wurde rigoros entlassen. Drohung gehörte zum Führungsstil; für Angehörige war niemand ansprechbar; Telefone, Briefe und Mails wurden ignoriert.

Erst im Sommer 2013, nach dem Angehörige die Presse eingeschaltet hatten, kam Bewegung in das verantwortliche politische Gremium und der GF wurde entlassen.
Seither versucht eine neue Führungscrew unter der Leitung eines fachlich rundum gut ausgebildeten und praxiserfahrenen Geschäftsführers, die nach wie vor stark einschränkenden politischen Vorgaben einigermassen menschenwürdig umzusetzen. Die Quadratur des Kreises.

Wiederholt beobachtete ich auch später, wie Mutter das Essen einfach hingestellt und, weil sie sich offensichtlich mehr und mehr nicht mehr selber helfen konnte, später fast unberührt wieder abgetragen wurde. Unnötig zu erwähnen, dass Mutter an Unterernährung litt und massiv an Gewicht verlor. — Erschwert wurde alles dadurch, dass Mutter auf Befragen immer wieder erklärte, keinen Hunger oder genug gegessen zu haben. Leider verweigerte sie auch lange die Eingabe von Essen durch FaGe, was aufgrund ihrer Erfahrung mit dem Pfleger nicht erstaunt.
Bei allen meinen Besuchen verlangte sie jedoch auffallend oft nach Süssigkeiten, hatte oft Hunger und Durst oder erklärte, sie habe schon lange nichts mehr zu Essen bekommen.
Aufgrund der zeitweise zu beobachtenden, geistigen Verwirrung glaubte ich ihr leider anfänglich nicht alles. Erst mit der Zeit bemerkte ich, dass das, was Mutter mir bezüglich Pflege, Verpflegung und Betreuung erzählte, tatsächlich zutraf. Das beunruhigte und schockierte mich.

Der Sturz vom 19.2. brachte insofern eine Wende, als nun Mutters Hilflosigkeit für alle offensichtlich geworden war. Trotzdem brauchte es mein Eingreifen, damit Mutter endlich pürierte Nahrung erhielt, die sie trotz ihrer zunehmenden Schluckbeschwerden schlucken konnte. Natürlich war Mutter nicht begeistert. Trotzdem ass sie fortan bedeutend grössere Portionen.

Mutter beklagte immer wieder, dass die FaGe sie grob anfassten und dass ihr bei den Pflegehandlungen oft übel werde, weil alles so rasch und unvorhergesehen passiere.

Am späten Nachmittag des 6.3.2014 wurde ich Zeuge mehrerer übergriffiger Vorfälle, die mir mit einem Mal alles erklärten, was Mutter bisher erzählt hatte:
Frau B. ist seit ein paar Wochen neu angestellt. Sie wurde von einer FaGe «eingearbeitet», die ebenfalls noch nicht lange hier arbeitet. Mein Freund G. und ich wurden schon einmal durch das unhöfliche, anmassende Verhalten dieser Personen irritiert.
An diesem Nachmittag liegt Mutter wie seit ihrem Sturz üblich im Bett, leicht auf die rechte Körperseite gebettet und doch auf dem Rücken liegend mit dem Gesicht leicht zur Wand geneigt. Aufgrund ihrer Lähmung und Versteifung ist ihr eine Veränderung der Lage aus eigener Kraft nicht möglich. Damit wir miteinander reden können, schiebe ich meinen Stuhl zwischen Bett und Wand. Mutter weint und insistiert, ich müsse sie wegholen, sie halte das nicht mehr aus; andernfalls bringe sie sich um. Sie tut mir unendlich leid. Und trotzdem habe ich keine Idee, wie ich ihr da helfen könnte. Auf meine Frage: «Hast Du Dir überlegt, wie Du Dir denn das Leben nehmen wirst?» kommt ihre resignierte Antwort: «Da wird mir dann schon etwas einfallen.» I. schildert mir detailiert, wie grob mit ihr umgegangen wird, obwohl doch ihr Körper dermassen fragil und vom Sturz her noch stark geschunden sei. In der Tat sind die vielen Hämatome am ganzen Körper unübersehbar.
Die Türe fliegt auf und mit Getöse erscheint die FaGe Frau B., eine grosse, füllige Person, die einem auch etwas unheimlich vorkommt, wenn man nicht hilflos im Bett liegt. Ihre Stimme ist lauter, als es die Situation erfordert. Über Mutters Bett hinweg erzählt sie über ihre Erfahrung in der Begleitung Sterbender, dass sie vorher in einem von katholischen Ordensschwestern geführten Hospitz gearbeitet habe und von diesen sehr geschätzt worden sei. Zur Krönung schildert sie einen Pflegefall, in welchem der Sterbende angeblich auf Anordnung der Angehörigen verhungert sei. Notabene: am Bett meiner Mutter, die nach einem Kollaps zwischen Weiterleben und Sterben schwebt!! «Frau B., so etwas gehört nicht in dieses Zimmer und schon gar nicht an dieses Bett!» wende ich ein, was von der FaGe mit einer beschwichtigenden Geste beantwortet wird. — Mutters Kommentar: «Jetzt siehst Du einmal, wie das zu und hergeht hier!»
Etwas später kommt dieselbe FaGe wieder und bringt Morphium-Tropfen. Bei der Eingabe traue ich meinen Augen nicht!: Die FaGe beugt sich über das Bett in dem Mutter immer noch in unverändertet Lage liegt, den Kopf tiefliegend, stützt ihren massigen Unterarm auf das lädierte Brustbein von I., drückt mit einem Finger Mutters Unterlippe nach unten und leert so die Flüssigkeit direkt zum «Halszäpfli» von I., die sofort mit Husten reagiert. Ich bin schockiert, schweige aber, weil ich zuerst mit Mutter klären will, was sie dazu sagt. «Ich habe immer Angst zu ersticken. Doch, was soll ich tun? Oft geht es einfach nicht mit Schlucken, wegen dieser blöden Blockade. Darum sind sie auf diese Lösung gekommen, mir die Flüssigkeiten so einzuflössen.»
Tatsächlich kommt die FaGe wenig später mit einer Tablette und das gleiche geschieht wieder, dieses Mal mit Kaffee, den sie eigens in das Medikamentengläschen umleert.  Auch die Tablette wird ganz hinten in den Rachen gelegt...
Schockiert bitte ich sie, dieses Vorgehen sofort einzustellen. Unbeirrt macht die FaGe weiter und erklärt: «Das machen wir halt so, damit Ihre Mutter schlucken kann.» Und vermutlich mehr zu sich selber: «Nein, so geht das nicht, so geht das wirklich nicht!» damit meint sie meine Intervention und schüttet auf dieselbe Art und Weise noch mehr Kaffee nach. Ich so: «Ja, sie haben recht: So geht das nicht! Und ich rufe jetzt gleich Frau W., die Heimleiterin an!» Was ich auch sogleich mit dem Handy tue. Frau W. ist nicht erreichbar, weshalb ich sie um ihren Rückruf bitte, der alsbald erfolgt. Aufgebracht schildere ich der verduzten Vorgesetzten den Vorfall. Sie gibt meinem Empfinden recht und verspricht, die Sache zu klären.
Wenig später erscheint die FaGe zusammen mit der «Tages-Verantwortlichen» (ebenfalls nur FaGe, eine einfühlsame, schüchterne, sympathische Frau), um bei meiner Mutter die angeordnete Umlagerung vorzunehmen. Trotz hydraulischer Matratze soll diese Massnahme mithelfen, Wundliegen zu vermeiden. Während die Tagesverantwortliche sich hinter das Bett stellt, fasst Frau B. von vorne über I. hinweg deren unten liegende Hüftseite — und schwubs, mit einem kräftigem Schwung, wird meine Mutter auf die andere Seite gedreht. Mir wird schwindlig vom Zusehen. Kein Wunder, klagt meine Mutter über schwindlige Übelkeit! Die Tagesverantwortliche steht staunend daneben.

Etwas später am Abend staune ich wiederum, dieses Mal vorerst positiv überrascht: Obwohl es schon 19:30 Uhr geworden ist, steht plötzlich Frau W. im Zimmer. Allerdings hinterlässt ihr Besuch ein etwas schales Gefühl, weil sie es unterlässt, meiner Mutter klar und deutlich den Grund ihres Besuches zu nennen und sich für das unadäquate Verhalten ihrer Angestellten zu entschuldigen. Stattdessen säuselt sie I. den Kopf voll und küsst sie zum Abschied auf die Wange. Etwas, was ich schon mehrmals beobachtet habe und was mir auch die Mutter mit etwas Aberwillen erzählte. Genau wie Mutter empfinde ich dies ebenfalls als übergriffige Anbiederung.

Frau W. verspricht mir, diese ganze Angelegenheit und daraus resultierende Massnahmen mit der Stationsleitung zu besprechen. I. offeriert sie ein «Temesta» gegen die Angst. Sie will die künftige Abgabe mit dem Arzt besprechen.

Ich bleibe bis 22 Uhr. In diesen Stunden ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen, was mir Mutter immer wieder erzählte, entspricht der Wahrheit und ist mit ein Grund für ihre Ängste.

Anderntags beschreibe ich Frau W. in einem langen Brief meine Beobachtungen und Befindlichkeiten. Nicht unerwähnt lasse ich, dass die Bewohner nicht «Temesta» zur Linderung ihrer Ängste benötigen, sondern menschlich einfühlsame und sorgfältig kompetente Pflege und Zuwendung.
Ihre Antwort ist banal: Wir wissen, dass da und dort noch Handlungsbedarf besteht und bemühen uns um Fortschritte. Das dauert seine Zeit, ist nicht von heute auf morgen zu bewerkstelligen. Wir bitten um Geduld. Kopie an ihren Vorgesetzten, den GF. — Alles schon (zu) oft gehört.

Später orientiert mich die Stationsleiterin, dass der Arzt der Abgabe von «Temesta» zugestimmt und ein entsprechendes Rezept ausgestellt habe. Bei dieser Gelegenheit erfahre ich ferner, dass bereits vor einiger Zeit die Morphium-Abgabe reduziert worden sei. Dies auf Wunsch der FaGe, weil I. so oft phantasiert habe, was für die Pflege schwierig geworden sei. Man behelfe sich bei Bedarf mit anderen Schmerzmitteln. Aha. Darum also ist die Schmerzsituation so unbefriedigend gelöst. Ich werde dieses Thema mit dem Arzt besprechen müssen, der glücklicherweise die gleiche Haltung hat wie ich: I. muss keine Schmerzen leiden!

Was mich am meisten beschäftigt ist der Umstand, dass man als Angehörige, die sich wehrt, sofort und allzu gerne in die Ecke «hysterische Ziege» schubladisiert wird. Es wird unterstellt, dass wir aus persönlicher Betroffenheit nicht mehr objektiv beobachten und wahrnehmen könnten. Und damit wird unseren Aussagen — und denjenigen unserer Mütter und Väter — die Glaubwürdigkeit entzogen. Wer, wenn nicht wir Angehörigen, soll denn sonst auf Missstände aufmerksam machen? Wer, wenn nicht wir Angehörigen, soll sich denn für die Betroffenen wehren, die hilflos ausgeliert in ihren Betten liegen?

Ohnmächtige Wut steigt hoch; und das wiederum betrachte auch ich als ein der Sache  nicht besonders hilfreicher Umstand. Darum habe ich mir angewöhnt, erst darüber zu schlafen, bevor ich Briefe, Mails oder Blogposts schreibe.

Eine der FaGe hat einen Kurs «palliative Alterspflege» besucht und erzählt mir irritiert, dass die Heimleiterin ihr gesagt habe, diese Kompetenz sei hier halt nicht gefragt... Und dies ausgerechnet in einem Kanton, dessen Gesundheitsdirektorin sich öffentlich für Palliative Pflege einsetzt und diese in ihren Institutionen angeordnet haben will... Ungläubiges Staunen.

Am 24.3.2014 muss ich mich wiederum an Frau W. wenden. Im Zusammenhang mit der Unfallabrechnung stelle ich fest, dass auch die Stationsleiterin offenbar nur wenig Dossierkenntnis hat. Nur so ist es zu erklären, dass sie sowohl dem Notarzt wie auch dem Spital eine falsche Krankenkasse meldete und höchst erstaunt reagierte, als ich dies bei ihr korrigierte.
Weit gravierender erscheint mir jedoch eine weitere Beobachtung im Umgang mit meiner Mutter.
I. leidet an Obstipation und bekommt deshalb täglich Abführmittel. Darmlähmung (vorübergehend oder chronisch) gehört zu den Symptomen bei fortgeschrittenem Morbus Parkinson. Bei meinem Besuch am Abend wünscht I. auf den Nachtstuhl gesetzt zu werden. Die FaGe beauftragen mich mit einer erstaunlichen Selbstverständlichkeit, noch länger hier zu bleiben und I. auf dem Nachtstuhl zu hüten. Nach etwa 30 Minuten läute ich, obwohl I. sagt, dass es noch nicht geklappt habe. Eine der FaGe kniet nun von hinten unter den Nachtstuhl und versucht, I.s Darm manuell zu entleeren, während dem letztere auf dem Nachtstuhl sitzt. Mir bleibt schier die Spucke weg! Natürlich kenne ich die manuelle Darmentleerung. Allerdings weiss ich, dass man dies in Seitenlage der Patientin vornimmt, wenn diese soweit wie möglich entspannt liegen kann. Nie wäre ich vorher auf die Idee gekommen, dass man diese an sich schon menschen-unwürdige Pflegehandlung in einer solchen Position vornehmen könnte — und schon gar nicht in Anwesenheit von Besuch.

Ein Besuch im Mai 2014. Es ist 16 Uhr. Bei meinem Eintreffen hantieren die FaGe Frau B. (derentwegen ich schon einmal intervenieren musste) und eine zweite an Mutters Bett. Katheder und Nachthemd liegen bereit. Eine heisse Trink-Schokolade zum Zvieri steht unangetastet daneben. Die Pflegefrauen räumen das Feld, damit Mutter sich meinem Besuch ungestört widmen könne.

«Wie spät ist es jetzt?» erkundigt sich Mutter. «Genau 16 Uhr, warum?» — «Die wollten mir eben schon das Nachthemd anziehen. Weil ich nicht einverstanden war, sagten sie mir, es sei jetzt schon bald 18 Uhr und damit Zeit für das Nachthemd. Dabei habe ich doch genau gewusst, dass es noch nicht 18 Uhr sein kann!»
Sicher, nichts Gravierendes. Und doch: Ist es menschenwürdig und ethisch, einem pflegebedürftigen Menschen unwahre Angaben zu machen, nur um der eigenen Bequemlichkeit willen? Wo ist da die Grenze?
Möchten Pflegende auch auf diese Weise gepflegt werden, wie sie es oft ihren Patienten zumuten?

Immer wieder bedanke ich mich bei den FaGe wie auch bei der Leitung für alles Gute, was sie für die Bewohnenden tun und für alle Verbesserungen, die sie täglich anstreben. Ich bin mir im Klaren: Die meisten Übergriffe und unethischen Handlungen passieren nicht aus böser Absicht, sondern im Gegenteil, aus dem guten Willen, das Beste zu machen. Zeitdruck und ungenügende Ausbildung spielen ebenfalls eine nicht unbedeutende Rolle.
Ich achte alle Menschen in Pflegeberufen hoch, besonders in Alterszentren, wo sie sich auch selber oft allerhand bieten lassen müssen — gerade auch von I. an ihren schlechten Tagen oder in ihren verwirrten Zuständen.

Trotzdem erachte ich es als meine Menschenpflicht, bei (gravierenden) Unkorrektheiten zu intervenieren.

In diesen Tagen ist eine weitere Klärung hängig, weil ich aufgrund eines Vorkommnisses mittels E-Mail um schriftliche Stellungnahme bezüglich Pflege-Plan und Medikamenten-Liste für I. gebeten habe und der GF «die klare Meinung vertritt», dass es hier keine weitere Schriftlichkeit brauche, sondern dass man mir die gewünschten Auskünfte telefonisch oder in einem persönlichen Gespräch geben könne.

Folgendes Zitat aus der Mail-Antwort des Geschäftsführers an mich mag einen kleinen Einblick geben in die Schwierigkeiten, mit denen heutzutage die Führung einer Pflegeinstitution konfrontiert ist:
«Als Geschäftsführer und auch als Fachperson macht es mich auch immer wieder betroffen, wenn Situationen nicht optimal verlaufen. Wir haben wegen der von Ihnen angesprochenen Thematik der FaGe und „Hilfskräfte“ innerhalb der Alterszentren viel Zeit und Geld investiert, um das Pflegepersonal in der Anwendung und Umsetzung des Pflegeprozesses zu schulen. Ein Grund dafür ist, dass die „neuen“ Berufsbilder wie FaGe und FaBe ursprünglich als Assistenzberufe der Diplomierten positioniert wurden und unsere „Gesundheitspolitiker“ davon ausgingen, dass alle Institutionen über genügend Diplomierte, sprich HF Abgänger/-innen verfügen würden. Leider zeigt die Realität, dass die HF wenn sie studiert haben, in aller Regel nicht am Bett arbeiten wollen und schon gar nicht in einer Langzeitpflegeinstitution. Infolge dessen sind die Langzeitpflegeinstitutionen in der Schweiz plötzlich damit konfrontiert, dass FaGe-Personal Funktionen übernehmen müssen, welche in der Ausbildung nicht vorgesehen waren. Das entschuldigt nicht, dass „unprofessionell“ gearbeitet wird. Ich möchte Ihnen mit diesem Exkurs etwas aufzeigen, dass die Gesundheitspolitik und die Berufsbildungsreformen in der Praxis mehr Probleme generieren, als sie zu lösen versprochen haben. Ich bin froh, dass wir inzwischen wieder qualifiziertes Personal rekrutieren konnten, welches uns in unseren Bestrebungen unterstützen kann und wir dem „Ideal“ wieder näher kommen können.»

Gerade diesen letzten Satz habe ich leider in den letzten zwei Jahren zu oft gehört, als dass ich ihn noch glauben könnte. Abwarten und die Augen offen halten.
  

Ich möchte sterben

31.05.2014
Es ist fast 17 Uhr, als ich bei I. eintreffe. Sie sitzt im Rollstuhl. Das Klemm-Tischlein ist nicht richtig befestigt. Im TV, dessen Ton wie meist für Mutters Ohren viel zu laut eingestellt ist, läuft «Sissi». Auf ihrem Tischchen stehen ein Becher mit Milchkaffee und einer mit Trink-Schokolade, beides erkaltet. Dem Trinkprotokoll entnehme ich, dass I. seit 15 Uhr nichts mehr zum Trinken gekriegt hat.

Als erstes bittet mich Mutter, das «laute Sissi-Zeug» auzuschalten. Ihr sei schlecht, sie habe Durst, unerträgliche Schmerzen, vor allem am Dekubitus beim Steissbein und sie könne den Kopf kaum mehr halten. Dieser ist so stark nach hinten geknickt, dass das blosse Hinsehen schon schmerzt. Ein Kissen, das irgendwo hätte stützen sollen, liegt am Boden.
Heute ist es unmöglich, Mutter im Rücken- oder Nackenbereich ein zusätzliches Kissen einzuschieben; sie ist völlig versteift. Von der mitgebrachten Eiscrème verzehrt Mutter gerne ein respektables Stück. Ein kurzer Moment süsser Ablenkung vom stundenlangen Leiden.

Mutter erzählt, dass sie nun schon mehrere Stunden hier sitzen müsse, obwohl sie längst ins Bett möchte. Auffallend, wie schwer ihr heute das Sprechen zu fallen scheint, zusätzlich erschwert durch häufiges Abhusten von Schleim. «Rosemarie, ich möchte sterben.»  «Das glaube ich Dir und kann es gut verstehen. Mami.» «Ich möchte einfach sterben können, Rosemarie!» «Ja, Mami, das wäre eine Erlösung, gell. Ich verstehe Deinen Wunsch, doch helfen kann ich Dir dabei nicht; tun musst Du es selber.»
Die eintretende FaGe unterbricht unser Gespräch und bestätigt, dass I. seit 14 Uhr im Rollstuhl sitzt. Man wisse auch nicht mehr weiter, was inbezug auf den Dekubitus zu tun sei. Sie bringt Mutter zu Bett.
Heute beobachte ich wiederum eine besondere Methode der Medikamenten-Eingabe: Während Mutter ziemlich flach liegt (ihr Kopf ist spastisch auch im Liegen sehr stark nach hinten gebogen), schiebt ihr die FaGe zuerst eine Pille in den Mund und versucht dann, diese mittels der Morphintropfen hinunterzuspülen. Dazu leert sie die Tropfen einfach in Mutters Mund. Wenn man sich bewusst wäre, dass Parkinsonpatienten oft (und gerade in gefühlten Stress-Situationen) eigentliche Schluckblockierungen haben, käme man bestimmt nicht auf so eine absurde Idee. Obwohl noch mit wenigen verkrampften Schlucken Kaffee nachgespült wird, stelle ich später fest, dass Mutter die Tablette noch immer im Mund hat. Sie klärt mich auf, dass sie oft Tabletten im Mund zergehen lassen müsse, weil sie diese nicht schlucken könne.
Zusammen mit zwei Stücklein Schokolade gelingt es ihr dann doch noch, die Pille in den Magen zu befördern.

Mutter möchte dösen, während ich am Bett sitze. Derweilen lese ich in der Dorfzeitung die bis vor kurzem noch geliebten Nachrichten aus ihrem Bergdorf.

Unvermittelt bittet mich I. um Geld und erzählt vom neu gekauften «Deux-Pièces» und einem Pyjama für J., meinen Bruder. Beides sei nicht teuer gewesen, doch habe sie eigenartigerweise nichts bezahlen müssen und auch keine Rechnung erhalten. Das neue Kleidungsstück hänge im Schrank, ich solle es anschauen und sagen, ob es mir gefalle, fordert sie mich auf. Ob sie es als Sonntagsgewand gekauft habe, will ich wissen. «Nein, nicht nur.» murmelt sie, geistig bereits an einem anderen Ort weilend. Dass heute Vormittag der Blasenkatheter ausgewechselt worden sei, scheint ihr noch wichtig zu berichten.

Kurz bevor das Nachtessen serviert wird, verabschiede ich mich. «Chumm guet hei, heb Sorg zueder!»


Mehr noch als ihre klaren Abschiedsworte hallt heute Mutters eindringlich wiederholter Sterbewunsch nach...

Muttertag

11.5.2014
Heute ist Muttertag. Früher war dies ein fröhlicher Familiensonntag. Seit Mutter im Pflegeheim wohnt, ist er nicht mehr so unbelastet; wie es keiner der gefühlsschwangeren Feiertage wie Geburtstag, Weihnacht, Ostern mehr sein kann.

In den letzten Wochen hat Mutter immer wieder gezeigt, dass sie Freude hätte, wenn ich mit ihr das Mittagessen einnähme. Heute will ich ihr diesen Wunsch erfüllen. I. geht nicht mehr gerne in den öffentlichen Speisesaal des Zentrums. An guten Tagen isst sie im kleinen Speiseraum auf der Etage, an weniger guten oder wenn sie Besuch hat, bleibt sie im Zimmer. Damit sich Mutter freuen kann, melde ich meinen Besuch etwa eine Stunde vorher an, kurz bevor ich mich auf den Weg mache. Ich treffe es gut mit meinem Anruf, die FaGe befindet sich gerade bei I. und hält ihr den Telefonhörer ans Ohr. Mutter ist präsent, zeigt Freude und bedankt sich.

Bei meinem Eintreffen erkundigt sie sich, wo ich sie denn gefunden hätte, da sie nicht in ihrem Zimmer sei. Aha. Mutter weilt also wieder in einer anderen Dimension. Zum Muttertag hat das Alterszentrum einen Brunch mit Buffett organisiert. Die FaGe erkundigt sich bei I. nach Ihren Gelüsten. I. kann sich nicht recht zu einer Auswahl entscheiden. Zu Spiegelei, Fleischkäse, etwas Rösti und zum Dessert «Crème brûlée» sagte sie schliesslich ja. 
Als wir mit den Speisen zurückkommen, hält sich ihre Begeisterung in Grenzen. Dafür verlangt sie nach Brot, was ich nochmals unten holen muss. Die FaGe muss Medikamente ausgeben, bevor sie der Mutter beim Essen helfen kann. Oft habe ich in den letzten Wochen erlebt, dass Mutter es schätzte, wenn ich ihr die Speisen eingebe. Doch heute schaltet sie stur auf Widerstand und äussert alle möglichen Zusatzwünsche. Unser Essen wird kalt, was Mutter nicht stört, weil es ja eh immer kalt sei. Ich merke, wie ich an meine Grenzen komme. Die Szene erinnert mich an den heutigen Beitrag einer Mutter auf «Twitter»: «Der Sohn hat zum Muttertag eine neue Choreografie für den morgendlichen Trotzanfall einstudiertBin ganz bewegt.» Im Gegensatz dazu bin ich nicht bewegt, sondern überfordert. Was vielleicht ja auch eine Form von Bewegtsein wäre
Als die FaGe kommt, um beim Essen behilflich zu sein, isst Mutter lammfromm alles, was ihr angeboten wird. ...

Später bittet sie mich, sie heimzubringen, da sie müde sei. Nach dem Ort ihres Daheims befragt, nennt sie zwei verschiedene frühere Adressen. Der FaGe erklärt sie, dass ich sie nicht heimfahren wolle und diese darum ein Taxi bestellen solle. Diese Bemerkung trifft mich so tief, dass ich einen Moment gegen die Tränen kämpfen muss.

Zum Abschied zeigt mir Mutter die kalte Schulter. Das Schlimme daran dünkt mich, dass ich nicht weiss, ob sie das ernst meint.

Die FaGe erzählt mir, dass Mutter fast täglich darum bitte, sie solle mich anrufen, ich würde sie schon nach Hause fahren.

Auf der Heimfahrt wird mir plötzlich klar, welch tiefgreifende Auswirkungen eine Äusserung aus meinem Kindermund bis zum heutigen Tag hat. Ich war viereinhalb Jahre alt, als mein Bruder zur Welt kam. Mutter erlitt eine Schwangerschafts-Vergiftung, die sie für fast die ganze Dauer der Schwangerschaft mit Übelkeit und Erbrechen (den Galle-Geruch habe ich heute noch in der Nase) ans Bett fesselte, und die dazu führte, dass Mutter die letzten Wochen fern der Familie in der Nähe der Geburtsklinik verbringen musste. Als sie mit dem Säugling nach Hause kam, soll ich einige Tage später gesagt haben «Gäll, dë bringed mer wieder zrugg.» Eine Bemerkung, die Mutter damals offenbar so tief kränkte, dass sie mir diese bis zum heutigen Tag nachträgt, was erst etwa vor 2 Jahren zufällig ans Tageslicht kam.

Gespürt habe ich die plötzlich aufgetauchten, mir unerklärlichen Ressentiments meiner Mutter mein ganzes Leben lang. Bis heute ist es so, dass mir I. bei allen sie betreffenden Entscheidungen oder Handlungen eine negative Absicht unterstellt. Es ist eine wiederkehrende, verletzende, schmerzhafte Erfahrung, bestimmt auch für Mutter. Leider ist es weder mir noch der früheren Heimleiterin gelungen, I. von der harmlosen Normalität meiner kindlichen Reaktion auf die Geburt eines Geschwisters zu überzeugen. 
Der Gedanke, dass Mutter mit diesem Missverständnis im Herzen ihr Leben beenden muss, macht mich traurig. Obgleich ich klar weiss, dass ich dafür nicht verantwortlich bin, fühle ich mich ohnmächtig und ausgeliefert.