Donnerstag, 13. November 2014

Einschub: Ostern — oder mit dem Tod auf Tuchfühlung

20.04.2014
«Bist Du es?» begrüsst mich Mutter leise aus den Kissen, ohne meinen Namen nachzuschieben, wie sie das bisher immer zu tun pflegte, wenn jemand ins Zimmer tritt. Es ist Ostersonntag, kurz vor 17 Uhr.
«Ich bin noch nicht lange zurück; heute war ich den ganzen Tag in Österreich. Jetzt ist mir schlecht. Gibst Du mir ein Glas Wasser, bitte?»
Tatsächlich, Mutter schaut im Wortsinn leichenblass, wächsern aus. Ich erschrecke, nicht nur wegen dieser Blässe. Irgendwie scheint sonst noch etwas hier zu sein, etwas Unheimliches. Etwas, das mir bei allen bisherigen Sterbebegleitungen noch nie begegnet ist. Etwas, das mich das Fürchten lehrt.

Zur Feier des Tages habe ich Eiscreme mitgebracht: Je einen Becher Schokolade- und einen mit Vanilleglacé. «Glacé? Das ist noch besser als Wasser!» Mutter scheint sich zu freuen. «Hilf mir, damit ich aufstehen kann! Musst nur meine Hand halten, dann kann ich aufstehen.» versucht sie mich zu überreden. Sie besteht darauf, zum Glacé-Essen aufzustehen. Vom angebotenen Getränk trinkt sie mit aussergewöhnlich grossen Schlucken. Wir läuten der Pflegefachfrau, die Mutter bereitwillig in den Rollstuhl setzt, nachdem wir ihr gemeinsam den Morgenmantel angezogen haben. Wie schick sie darin aussieht! Das fröhliche Rot verleiht dem wächsernen Gesicht etwas Lebendiges, eine rosige Frische. Mutter fasst den samtenen Stoff an und erinnert sich sogleich an die edle Machart mit den schönen Goldknöpfen. «Ein Geschenk von R.!» klärt sie uns auf. Die Nennung seines Namens ist selten geworden. I. weilt meist bei Menschen aus ihrer frühen Vergangenheit; vor allem ihre Eltern scheinen sehr präsent zu sein.

Bevor es ans Glacé-Essen geht, verlangt Mutter, dass ich ihr ein Frottiertuch umlege, damit sie den schönen Morgenmantel nicht bekleckere. Als ich eine Papierserviette bringe, moniert sie das Frottiertuch. Erst damit ist sie für die Eiscreme bereit. Vanille und Schokolade von beidem etwas auf dem Löffel, so schmeckt es ihr am besten. «Es ist verrückt: Sie haben mir noch etwas eingepackt, ein Glas oder so. Und dann doch nicht mitgegeben.» «Wer hat Dir etwas eingepackt?» «Die Leute dort.» «In Österreich?» «Ja, klar. Diese !» Das letzte Wort habe ich nicht verstanden, zu unklar war Mutters Aussprache. «Wo bist Du denn gewesen in Österreich?» «In Vorarlberg, wo denn sonst?!» «Weisst Du noch, wer dabei gewesen ist?» «Die, die immer kommen, die mich diese Woche jeden Tag geholt haben. Nur mit dem Heimfahren klappt es nicht immer. Die sind sehr unpünktlich, wenn wir zurückfahren sollten. Das beste wäre, wenn man ein eigenes Auto hätte und selbständig zurückkehren könnte.»

Mit einem feuchten Waschlappen reinige ich nicht nur Mutters Lippen von den Essensresten, sondern auch die verklebten Augen und die mit kaltem Schweiss überzogene Stirn. Eine Nebenwirkung des Morphiums.

Heute mag I. nur eines der erblindeten Augen zeitweise geöffnet halten. Zwischen vielen Fantasiebildern erkennt sie erstaunlicherweise den Übergang von der weiss getünchten Wand zur ebenfalls weissen Zimmerdecke sowie die Umrisse eines der Porzellan-Wandteller, von denen sieben ihre Wand zieren. Märchenteller, die Mutter immer sehr viel bedeutet haben. Ganz aufgebracht behauptet sie, da sei jetzt nur noch einer. Sie will, dass ich den Hochlehner-Fauteuil aus ihrem Blickfeld entferne. Dieser Stuhl steht gerade in Mutters Rücken, an der gegenüberliegenden Wand. Sie kann ihn unmöglich sehen. Darum verschiebe ich Mutters Rollstuhl ein bisschen, wogegen sie sich heftig wehrt. Erst als ich am besagten Lehnstuhl schiebe, gibt sie sich zufrieden.

Die Pflegefachfrau bringt das Nachtessen: Birchermus und Halbgefrorenes, damit Mutter das Birchermus besser schlucken kann. Mutter staunt irgendwie und bemerkt, dass die andere Pflegerin doch etwas von Roastbeef und Auswahlmenü erzählt habe…  
Leider kann ich ihr nicht versichern, dass sie bestimmt Birchermus bestellt habe, denn oft bestellt das Personal Mutters Abendessen aus eigenem Gutdünken.
Nach wenigen Bissen will Mutter nicht mehr. Sagt, sie habe genug. «Ich muss noch zwei Bewohnern das Nachtessen eingeben. Mögen Sie noch solange aufbleiben, oder möchten Sie lieber jetzt schon ins Bett?» erkundigt sich die umsichtige Pflegehelferin. «Ja, ja, ist schon gut. Ich bleibe noch etwas auf.» Die kraftlose Antwort will nicht so richtig zum Inhalt passen. Kaum ist die Pflegerin gegangen bemerkt Mutter, dass sie sich jetzt nur noch auf das Bett freue, weil sie so müde sei, und ihr alles so weh tue, dass sie sich kaum mehr im Stuhl halten könne. Sie wehrt sich jedoch vehement dagegen, die Pflegerin zu rufen.

Wir können kein richtiges Gespräch führen; Mutter ist nicht wirklich da, obwohl sie zwischendurch eine Bemerkung aus dem Hier macht.
Und immer noch empfinde ich dieses Unheimliche; leise Furcht nimmt Besitz von mir. Nicht Angst, sondern Furcht, jenes tiefinnere Wahrnehmen von etwas leise Entsetzlichem, das sich wie unsichtbare Nebelschwaden im Raum bewegt.

Aus allen Gesprächen zwischen Pflegepersonen, Mutter und mir bastelt sie neue Geschichten. «Nicht einmal ein Messer haben sie mir gebracht.» reklamiert I. urplötzlich in die Stille. «Wozu benötigst Du denn jetzt ein Messer?» will ich wissen. «Um beim Käse die Rinde abzuschneiden.» Ich erkläre Mutter, dass sie im Rollstuhl sitzt und vor wenigen Minuten Birchermus zum Abendessen bekommen habe. Sie bestreitet das hartnäckig. Dann bittet sie mich, ihr zu helfen und vom Käse die Rinde zu entfernen. Dazu fuchtelt sie in die leere Luft, um mir den Käse zu zeigen.
Als die Pflegerin ein weiteres Medikament bringt, erkundigt sich Mutter, wann es denn heute Abendbrot gebe, sie hätte gerne Käse und Brot. Die Pflegerin anerbietet sich, später etwas Brot mit Butter und Konfi zu bringen, weil sie keinen Käse auf der Abteilung vorrätig habe.
Mutter willigt zufrieden ein und ich überlege, das nächste Mal etwas rezenten Käse zu bringen, den Mutter zeitlebens gerne gegessen hatte.
Obwohl Mutter in den letzten Jahren im Pflegeheim ihre Liebe zu Süssigkeiten entdeckt zu haben scheint, kann ich ihre Sehnsucht nach Rezentem gut verstehen. Ich erinnere mich an meine Kindheit: Beim Backen von Süssem hielt Mutter immer Bündnerfleisch, Appenzeller Käse und Essiggurken für den Ausgleich bereit, weil ihr das Süsse rasch zuviel wurde.

Nach zwei Stunden kann ich nicht mehr. Alle meine Energie ist weg, ich habe nur noch ein Bedürfnis: So rasch wie möglich raus hier! Die Pflegefachfrau montiert eine Tischplatte am Rollstuhl, damit Mutter nicht erneut vornüberfallen kann.

Mutter wünscht mir gute Heimfahrt und erklärt, dass sie sich zusammen mit meinem Freund G. eine Wohnung nehmen wolle. Da hätten sie es dann lustig miteinander. Lachend bitte ich Mutter, mich vor ihrem Umzug rechtzeitig zu informieren.

Das Unheimliche begleitet mich noch ein gutes Stück nach draussen. An der frischen Luft merke ich, wie ausgelaugt ich bin. Nach einem Blick in den Spiegel vergesse ich die Absicht, unterwegs gemütlich Einkehr zu halten.

Es ist jetzt 19 Uhr. Die Strassen sind leer, ich komme gut voran. Mit zunehmendem Abstand kehren meine Lebensgeister wieder zurück. Trotzdem wünschte ich mir diesmal, eine gute Seele hätte zuhause für mich ein feines, warmes Essen bereitetIch lege eine glutenfreie tiefgekühlte Pizza in den Backofen und sinke erschöpft in den Lehnstuhl.

Donnerstag, 4. September 2014

Entre Act — Grenzwertiges, Ethik & Co.

18.08.2014
Am Mittwoch, 13.08.2014, gebe ich mein schriftliches Einverständnis zu den «Zwangsmassnahmen», das heisst, dass das Klemm-Tischchen am Rollstuhl befestigt wird, um einen Sturz aus dem Rollstuhl zu verhindern, und für das Bettgitter, um einem Sturz aus dem Bett vorzubeugen. Auf dem entsprechenden Formular bringe ich deutlich beim Klemm-Tischchen den Vorbehalt an, dass ich nicht mehr will, dass Mutter stundenlang allein im Rollstuhl sitzen gelassen werde.
Diesen Vorbehalt erläutere ich persönlich gegenüber der Stationsleiterin wie gegenüber der Heimleiterin.

Weil die Stationsleiterin eine komplett andere Auffassung über die Rollstuhl-Mobilisation hat, schreibe ich am Freitag, 15.8.2014, eine Mail an die Heimleiterin und frage sie, ob sie dereinst so sterben möchte.

Am Montag, 18.8.2014, vormittags, erhalte ich die Mailantwort der Heimleiterin, die mir in allen Punkten recht gibt. Und mich zudem fragt, ob ich mit subkutanen Morphium-Abgaben einverstanden wäre. Als Erklärung fügt sie an, dass das Reserve-Morphium über das Wochenende nicht gereicht habe.
Bei mir taucht die Frage auf: War ein Vorfall am Wochen-Ende?

Am Bett stelle ich dann fest:
1.     Auf der Liste «Mobilisation Rollstuhl» steht, dass Mutter am 16.8.14 (Samstag), von 11:30 12:15 Uhr im Rollstuhl war.
2.     Im Lagerungsplan dagegen ist für den 16.8.14 mit einer Fussnote vermerkt, dass Mutter bis 15 Uhr im Rollstuhl sass!
Aha, darum also die akute Verschlimmerung...!

Bedenkt man, dass I. als Folge des Morbus Parkinson keine Muskeln mehr hat, am ganzen Körper total verkrampft, weitgehend versteift, halbseitig gelähmt und bis auf die Knochen abgemagert ist, sie ihr Gewicht also mit dem blossen Skelett aufrecht halten muss, dann ist dieses lange Sitzenmüssen nichts anderes als Folter!

Von den Pflegenden höre ich, dass Mutter jeweils böse reagiere, wenn man sie ins Bett legen wolle. Darum lässt man sie zeitweise sitzen, bis sie selber nicht mehr kann.

Zugegeben, meine Mutter ist nach wie vor eine starke Persönlichkeit, mit einem harten Kopf und klaren Vorstellungen, ihrem eigenen Willen, den sie selbstbestimmt umgesetzt haben will.
Zugegeben, die Pflege wie die Betreuung meiner Mutter sind zuweilen eine grosse Herausforderung für alle Beteiligten.
Trotzdem: Weil sie im Augenblick noch nicht ins Bett zurück möchte, sie dann einfach bis zum Zusammenbruch bzw. Schichtwechsel sitzen zu lassen, diese Haltung, so finde ich, gehört nicht in ein Pflegeheim.


Zwangsmassnahmen

13.8.2014
In der Zwischenzeit hat sich I. wieder aufgefangen, das heisst, sie scheint weiter zu kämpfen. Jedenfalls lässt sie sich regelmässig zum gemeinsamen Mittagessen in ihrer Etage führen, wo sie noch wenig zu sich nimmt.

Auf der Apotheker-Rechnung finde ich mehrmals die Position «Energy-Drink». Die Nachfrage auf der Station ergibt, dass die Pflegefachfrauen der Meinung sind, damit die Heilung des Dekubitus zu fördern. Aus verschiedenen Gründen habe ich Vorbehalte gegenüber dieser eigenmächtigen, teuren Zusatznahrung und bitte um Besprechung mit dem Arzt, der ein Rezept ausstellen soll.
Ich höre nichts mehr, ausser dass Mutter erzählt, sie habe wenige Male «öppis Gruusigs» zum Trinken erhalten, das sie fast nicht habe schlucken können. Ausserdem habe es ihr total den Hunger genommen.

Einmal erhalte ich von Mutter den Auftrag, ihr eine schöne 1 1/2 - Zimmer-Wohnung zu suchen, mit Badewanne und Küche, damit sie wieder baden und selber kochen könne.
Ein andermal — ich lese I. gerade aus der Zeitung vor, dass die Stiefschwester ihres Vaters kurz vor ihrem 99. Geburtstag in unserem Bergdorf verstorben ist — bittet sie mich, ihren Transport ins neu erbaute Pflegeheim im Bergdorf zu organisieren. «Welche Verbesserungen versprichst Du Dir von diesem Umzug?» versuche ich zu ergründen. «Dort kann ich dann so schön wieder um den See spazieren.» Dieser See hat eine spezielle Bedeutung in unserer Familie. Mutter hat nicht nur viele unserer Schlüttlis auf einem der Promenade-Bänklein gestrickt, sondern vor allem mich als «Poppi» täglich im Kinderwagen und auf dem Schlitten um diesen bekannten See gefahren. «Da müsstest Du wieder gehen können, Mami.» «Ich laufe doch jeden Tag ganz viel herum! Das ist kein Problem!» — «Du kannst selber gehen?» frage ich nach, denn ihre Beine sind spastisch angewinkelt und seit längerem versteift. «Natürlich, was glaubst Du denn?!»… Wieder einmal wünschte ich ein optisches Signal, welches mir anzeigen könnte, in welcher geistigen Dimension Mutter sich gerade aufhält.
Zum Abschied hole ich meinen Welpen und ermögliche Mutter einen kurzen körperlichen Kontakt mit dem kleinen Feger. Dieser reagiert freudig interessiert auf den neuen Kontakt. Trotzdem halte ich diesen Kontakt kurz. Mutter freut sich sichtbar, als ich ihre Hand über das seidige Fell des Hundes führe. «Ganz en Härzige!» kommentiert sie. «Muesch em Sorg hebe!»



Heute fegt ein heftiger Sturm über das Mittelland. Beim Eintreten ins Zimmer grüsse ich wie immer. «Wer isches?» «Ich bin es, R.» «Weissi dänk scho!»
Es ist 17:45 Uhr, auf dem Nachttisch stehen die fast unberührte Zvieri-Trinkschokolade (inzwischen kalt) und etwas Rivella. Der andere Beistelltisch ist mit einer Waschschüssel mit Wasser und diversen Pflege-Utensilien belegt.
Mutter trinkt 30ml Schoggi aufs Mal, eine für sie grosse Menge, was zeigt, dass sie durstig ist. Jedes Mal, wenn ich ihr zu Trinken anbiete, nimmt sie dann gerne einen oder zwei Schlucke.

Das Sprechen scheint ihr schwer zu fallen; vor allem kann sie nicht mehr deutlich artikulieren. Das bedeutet, dass wir uns unterhalten, obwohl ich öfter keine Ahnung habe, worum es geht. Hin und wieder zeigt sich das Missverständnis; dann müssen wir beide lachen. In gewissen Momenten findet I. es jedoch nicht lustig, was ich so gut verstehen kann — jedes Mal nachfragen scheint mir jedoch auch keine Option.
«Du hast mich eben beim Packen unterbrochen, jetzt müssen wir vorwärts machen!» «Beim Packen? Was packst Du und wozu?» will ich wissen. «Die braune und die weisse Handtasche und noch die schwarze Reisetasche… sie stehen dort» zeigt sie mit dem Finger in die Luft. «Hilfst Du mir dabei?» «Ja klar, ich packe Dir.» «Bin froh, danke.»
Dazwischen bringt die Pflegefachfrau Medikamente und überreicht mir das Formular «Zwangsmassnahmen» zur Unterschrift. Sichtlich unwohl in ihrer Haut erklärt mir die Gute, dass sie festgestellt habe, dass das benötigte Einverständnis fehle, damit sie I. mit dem «Klemm-Tischchen» im Rollstuhl festmachen und das Bettgitter hochziehen dürften. Ich bin ziemlich konsterniert, denn beides wird seit Februar regelmässig gemacht. Zum Glück, denn sonst wäre I. ja jüngst wieder aus dem Rollstuhl gefallen, als sie stundenlang sitzen gelassen wurde, kollabierte und die Glocke nicht funktionierte…
Ich gebe meine Zustimmung unter dem Vorbehalt, dass Mutter nicht mehr stundenlang im Rollstuhl sitzen muss; die Pflegefachfrau ist gleicher Meinung.

Später erzählt mir Mutter, dass ein langjähriger Freund einmal gesagt habe, sie könne jederzeit zu ihm kommen. Oha, da sind wir wieder an unserem heiklen Punkt angelangt: Mutters Erwartung, jemand würde sie zu sich nehmen, damit sie dem Pflegeheim entrinnen könne.
Zum Glück erscheint da die Pflege-Assistentin mit dem Znacht: Etwas Griessbrei mit Nutella (was Mutter als «Zucker und Zimt» verkauft wird), Konfibrot und Kaffee.
Während der Essenseingabe geht der Alarm, die Pflegefrau rennt davon. Als sie zurückkommt, scheint sie unkonzentriert und etwas aufgewühlt, denn die von ihr sonst gewohnte Präsenz im Handeln am Bett scheint zu fehlen. So serviert sie den Znacht sofort ab, als Mutter sagt, sie habe genug Griessbrei gegessen; leider ohne ihr zu sagen, dass da noch Konfibrot wäre.
Als ich der Pflegerin das unterzeichnete Formular übergebe, schlägt sie vor, mir die neue Stationsleiterin,  vorbeizuschicken, so könne ich den Sachverhalt gleich am richtigen Ort deponieren.

Prompt fragt Mutter wenig später, wann denn jetzt das Nachtessen komme, sie habe Hunger. Wie immer, ist I. nach der Einnahme der Parkinson-Medikamente geistig und körperlich sehr rege. Sie erzählt andauernd, ich verstehe leider kein einziges Wort…

Die neue Stationsleiterin klärt mich ungefragt und sehr selbstbewusst über ihre fachlichen Kompetenzen auf (namentlich in der Dekubitus-Behandlung), zeigt mir die neue Ordnung, die sie in Mutters Büchergestell für die Ausbreitung der verschiedenen Pflegeutensilien geschaffen hat, und will mich so davon überzeugen, dass sie alles fest im Griff habe, und dass jetzt alles besser werden wird. Schön. Mit dem Hinweis auf die verrechneten «Energy-Drinks» mache ich die Probe aufs Exempel. Offensichtlich weiss die Frau nichts von dieser teuren Zusatznahrung. Sie will der Sache nachgehen und mit der Heimleiterin besprechen. Dann erklärt sie, aufgrund ihrer Erfahrung seien diese Drinks zur Wundheilung wie sie hier vorliege völlig ungeeignet. Ausserdem seien diese Drinks selbst für nicht-schluckgehemmte Patienten ganz schwierig einzunehmen.
Dann übergebe ich ihr das ausgefüllte und unterzeichnete Formular: «Ich bin einverstanden mit dem Klemmtisch, wenn Mutter in ihrer jetzigen Situation nur kurzfristig im Rollstuhl sitzt und nicht allein gelassen wird.» (Wir sprechen im Zimmer, weshalb ich meine Worte mit Bedacht wähle.) «Ja schon, aber für die Mobilisierung von Ihrer Mutter ist es gut, wenn sie auch in die Senkrechte kommen kann, wegen der Lunge und für den Stoffwechsel. Das haben wir auch in der Langzeitpflege immer so gemacht!» belehrt mich die neue Stationsleiterin und fährt resolut fort: «So 1-2 Std., vielleicht auch einmal 2 1/2 Std. sollte sie aushalten können. Mehr schon nicht, das ist klar.» — Mich ergreift ein Schaudern, ich bin sprachlos! Wut und Ärger kommen hoch. Trotzdem gelingt es mir, dieses Gespräch höflich zu beenden. — Kommt Zeit, kommt Rat…

«Mami, hast Du gehört, was wir eben da besprochen haben?» «Ja, aber nicht alles.» «Ich habe zugestimmt, dass man Dich, wenn Du jeweils einverstanden bist, für kurze Zeit in den Rollstuhl setzt und dann dieses Klemmtischchen festmacht, damit Du nicht herausfallen kannst. Und, dass sie die Bettgitter hochziehen dürfen, damit Du nachts oder wenn Du ganz an der Kante liegst nicht aus dem Bett fallen kannst. Ich habe verboten, dass man Dich stundenlang allein im Rollstuhl sitzen lässt.» Mutter nickt, sie scheint einverstanden.

Die FaGe verspricht nochmals Konfibrot und ich verabschiede mich nach gut 1 1/2 Stunden.
«Chunsch glii wieder, wännt echli meh Zyt häsch. — Heb Sorg und chumm guet hei, ich ha nu Dich!» gibt Mutter mir mit auf den Weg.


18.08.2014
In einer Mail habe ich mich — unter Bezugnahme auf das Formular «Zwangsmassnahmen» und das Gespräch mit der Stationsleiterin — am Freitag, 15.8. an die Heimleiterin gewendet und sie gefragt, ob sie unter solchen Umständen sterben möchte?

In ihrer heutigen Mailantwort gibt mir die Heimleiterin in allen Punkten recht und verspricht, mit der Stationsleiterin zu reden. Für diese ist es offenbar die erste Stelle im palliativen Bereich. Zudem informiert sie mich über die bevorstehende Arztvisite, wo sie die Erhöhung von Morphin anregen wollten, da Mutters Schluckvermögen von Tag zu Tag weniger werde und zudem die verordnete Reserve seit Tagen aufgebraucht wurde und nicht mehr reiche. Ich werde um mein Einverständnis gebeten, das ich natürlich gebe. Frau W. versichert mir, dass sich die Pflege nach den Bedürfnissen der Bewohner richten müsse, nicht nach jenen des Personals.

Ich vereinbare mit der Heimleiterin ein Gespräch im Laufe des Nachmittags, wenn ich I. besuchen werde. W. informiert mich über ihr Gespräch mit der Stationsleiterin. Ihr gemeinsamer Vorschlag: Wenn Mutter aufstehen will — und nur dann! — wird sie zum Mittagessen mobilisiert, welches ihr ab sofort erst um 12:15 Uhr gereicht wird, damit dann eine Pflegeperson Zeit nur für sie allein hat. So könnte I. etwa 1/2 Std. begleitet im Rollstuhl verbringen. Mit dieser Lösung bin ich sehr einverstanden. Ferner hat der Arzt der subkutanen Injektion von Morphium zugestimmt und auch genügend Reserve verordnet, damit I. schmerzfrei sein kann.

Mutters Zustand hat sich seit letztem Mittwoch wesentlich verändert. «Schön, dass Du da bist.» Flüstert sie mir ins Ohr. «Wie geht es Dir?» «Nicht so gut.» I. erzählt mir vom Arztbesuch sowie von  Spritzen, keine Luft mehr bekommen, schier verstickt…, bevor Heimleiterin und Stationsleiterin eintreten.
Zusammen informieren wir Mutter über die Morphium-Injektionen und die Rollstuhl-Mittagessen-Lösung. Ausserdem kommen wir am Bett gleich zum Beschluss, dass die Umlagerungen nur mehr alle 4 Std. erfolgen. Müde signalisiert Mutter ihr Einverständnis.

Kaum haben die beiden Pflegeleiterinnen den Raum verlassen, kommt die ehemalige Aktivierungstherapeutin  — inzwischen wegrationalisiert, weil für Aktive ja sehr viel geboten wird und Bettlägerige eh keine Aktivierung mehr benötigen — ebenfalls zu Besuch. Sie hatte jahrelang Mutter beste Seelsorge geboten. Weil mir diese Begegnung der beiden Frauen ebenfalls wichtig ist, so lange Mutter noch ein paar Worte reden kann und bei Bewusstsein ist, gehe ich mit dem Welpen spazieren und einkaufen.
Als ich eine gute Stunde später wieder komme, hat I bereits die erste Injektion und etwas zum Znacht bekommen. Sofort fällt mir auf, dass Mutters Körper wesentlich ruhiger ist als sonst um diese Zeit. Abends, nach der Einnahme der Parkinson-Medikamente war Mutter bisher stets körperlich stark in Bewegung und redete oft schier pausenlos. Heute bewegten sich lediglich einzelne Finger der rechten Hand. «Wie geht es Dir?» «Besser.» «Wie ist es mit den Schmerzen?» «Besser.» Ich nehme einen Stuhl und setze mich ans Bett, wo ich still verweile. — «Wie geht es Deiner Seele?» «Das verstehe ich nicht.» «Wie geht es Dir seelisch?» «Gut.» ­— «Ich bin einfach nur sehr, sehr müde.»
Während Mutter döst, lasse ich im stillen Dasitzen ihr Leben, soweit es mir bekannt ist, vor allem ihre Highlights, vor meinem geistigen Auge vorüberziehen und nehme diese friedvolle Stimmung, die den Raum heute erfüllt, in mich auf.

Als ich mich nach etwa einer halben Stunde zum Gehen bereitmache, bittet mich Mutter, die Tagesschau einzuschalten. Sie verabschiedet sich zweimal von mir «Fahr guet — heb dr Sorg!» flüstert sie aus den Kissen, und überträgt mir herzliche Grüsse an meinen Freund G.