20.04.2014
«Bist
Du es?»
begrüsst mich Mutter leise aus den Kissen, ohne
meinen Namen nachzuschieben, wie sie das bisher immer zu tun pflegte, wenn
jemand ins Zimmer tritt. Es ist Ostersonntag, kurz vor 17 Uhr.
«Ich
bin noch nicht lange zurück;
heute war ich den ganzen Tag in Österreich.
— Jetzt ist mir schlecht. Gibst Du mir ein Glas
Wasser, bitte?»
Tatsächlich, Mutter schaut im Wortsinn leichenblass,
wächsern aus. Ich erschrecke, nicht nur wegen
dieser Blässe. Irgendwie scheint
sonst noch etwas hier zu sein, etwas Unheimliches. Etwas, das mir bei allen
bisherigen Sterbebegleitungen noch nie begegnet ist. Etwas, das mich das Fürchten lehrt.
Zur Feier des Tages habe
ich Eiscreme mitgebracht: Je einen Becher Schokolade- und einen mit Vanilleglacé. «Glacé? — Das ist noch besser als Wasser!» Mutter
scheint sich zu freuen. «Hilf mir, damit ich aufstehen kann! Musst nur
meine Hand halten, dann kann ich aufstehen.» versucht sie mich zu überreden. Sie besteht darauf, zum Glacé-Essen aufzustehen. Vom angebotenen Getränk trinkt sie mit aussergewöhnlich grossen Schlucken. Wir läuten der Pflegefachfrau, die Mutter bereitwillig in den Rollstuhl setzt,
nachdem wir ihr gemeinsam den Morgenmantel angezogen haben. Wie schick sie
darin aussieht! Das fröhliche
Rot verleiht dem wächsernen
Gesicht etwas Lebendiges, eine rosige Frische. Mutter fasst den samtenen Stoff
an und erinnert sich sogleich an die edle Machart mit den schönen Goldknöpfen. «Ein
Geschenk von R.!»
klärt sie uns auf. Die Nennung seines Namens ist
selten geworden. I. weilt meist bei Menschen aus ihrer frühen Vergangenheit; vor allem ihre Eltern
scheinen sehr präsent zu sein.
Bevor es ans Glacé-Essen geht, verlangt Mutter, dass ich ihr ein
Frottiertuch umlege, damit sie den schönen
Morgenmantel nicht bekleckere. Als ich eine Papierserviette bringe, moniert sie
das Frottiertuch. Erst damit ist sie für die
Eiscreme bereit. Vanille und Schokolade — von
beidem etwas auf dem Löffel, so
schmeckt es ihr am besten. — «Es ist verrückt: Sie haben mir noch etwas eingepackt, ein Glas oder so. Und dann
doch nicht mitgegeben.» — «Wer hat Dir etwas eingepackt?» — «Die
Leute dort.»
— «In Österreich?» — «Ja, klar. Diese … !» Das letzte Wort habe ich nicht verstanden, zu unklar
war Mutters Aussprache. «Wo bist Du denn gewesen in Österreich?» — «In Vorarlberg, wo denn sonst?!» — «Weisst Du
noch, wer dabei gewesen ist?» — «Die, die immer kommen, die mich diese Woche
jeden Tag geholt haben. Nur mit dem Heimfahren klappt es nicht immer. Die sind
sehr unpünktlich, wenn wir zurückfahren sollten. Das beste wäre, wenn man ein eigenes Auto hätte und selbständig zurückkehren könnte.»
Mit einem feuchten
Waschlappen reinige ich nicht nur Mutters Lippen von den Essensresten, sondern
auch die verklebten Augen und die mit kaltem Schweiss überzogene Stirn. Eine Nebenwirkung des
Morphiums.
Heute mag I. nur eines der
erblindeten Augen zeitweise geöffnet
halten. Zwischen vielen Fantasiebildern erkennt sie erstaunlicherweise den Übergang von der weiss getünchten Wand zur ebenfalls weissen Zimmerdecke
sowie die Umrisse eines der Porzellan-Wandteller, von denen sieben ihre Wand
zieren. Märchenteller, die Mutter
immer sehr viel bedeutet haben. Ganz aufgebracht behauptet sie, da sei jetzt
nur noch einer. Sie will, dass ich den Hochlehner-Fauteuil aus ihrem Blickfeld
entferne. Dieser Stuhl steht gerade in Mutters Rücken, an der gegenüberliegenden
Wand. Sie kann ihn unmöglich
sehen. Darum verschiebe ich Mutters Rollstuhl ein bisschen, wogegen sie sich heftig
wehrt. Erst als ich am besagten Lehnstuhl schiebe, gibt sie sich zufrieden.
Die Pflegefachfrau bringt
das Nachtessen: Birchermus und Halbgefrorenes, damit Mutter das Birchermus
besser schlucken kann. Mutter staunt irgendwie und bemerkt, dass die andere Pflegerin
doch etwas von Roastbeef und Auswahlmenü erzählt habe…
Leider kann ich ihr nicht versichern, dass sie
bestimmt Birchermus bestellt habe, denn oft bestellt das Personal Mutters
Abendessen aus eigenem Gutdünken.
Nach wenigen Bissen will
Mutter nicht mehr. Sagt, sie habe genug. — «Ich muss noch zwei Bewohnern das Nachtessen
eingeben. Mögen Sie noch solange
aufbleiben, oder möchten Sie
lieber jetzt schon ins Bett?» erkundigt sich die umsichtige Pflegehelferin. «Ja, ja,
ist schon gut. Ich bleibe noch etwas auf.» Die kraftlose Antwort will nicht so richtig
zum Inhalt passen. Kaum ist die Pflegerin gegangen bemerkt Mutter, dass sie
sich jetzt nur noch auf das Bett freue, weil sie so müde sei, und ihr alles so weh tue, dass sie sich
kaum mehr im Stuhl halten könne. Sie
wehrt sich jedoch vehement dagegen, die Pflegerin zu rufen.
Wir können kein richtiges Gespräch führen; Mutter ist nicht wirklich da, obwohl sie zwischendurch eine Bemerkung aus dem Hier
macht.
Und immer noch empfinde ich
dieses Unheimliche; leise Furcht nimmt Besitz von mir. Nicht Angst, sondern
Furcht, jenes tiefinnere Wahrnehmen von etwas leise Entsetzlichem, das sich wie
unsichtbare Nebelschwaden im Raum bewegt.
Aus allen Gesprächen zwischen Pflegepersonen, Mutter und mir
bastelt sie neue Geschichten. «Nicht einmal ein Messer haben sie mir gebracht.»
reklamiert I. urplötzlich
in die Stille. «Wozu
benötigst Du denn jetzt ein Messer?» will
ich wissen. «Um
beim Käse die Rinde abzuschneiden.» Ich
erkläre Mutter, dass sie im Rollstuhl sitzt und vor
wenigen Minuten Birchermus zum Abendessen bekommen habe. Sie bestreitet das
hartnäckig. Dann bittet sie mich, ihr zu helfen und
vom Käse die Rinde zu entfernen. Dazu fuchtelt sie in
die leere Luft, um mir den Käse zu
zeigen.
Als die Pflegerin ein
weiteres Medikament bringt, erkundigt sich Mutter, wann es denn heute Abendbrot
gebe, sie hätte gerne Käse und Brot. Die Pflegerin anerbietet sich, später etwas Brot mit Butter und Konfi zu bringen,
weil sie keinen Käse auf der Abteilung vorrätig habe.
Mutter willigt zufrieden
ein und ich überlege,
das nächste Mal etwas rezenten Käse zu bringen, den Mutter zeitlebens gerne
gegessen hatte.
Obwohl Mutter in den
letzten Jahren im Pflegeheim ihre Liebe zu Süssigkeiten entdeckt zu haben scheint, kann ich ihre Sehnsucht nach
Rezentem gut verstehen. Ich erinnere mich an meine Kindheit: Beim Backen von Süssem hielt Mutter immer Bündnerfleisch, Appenzeller Käse und Essiggurken für den Ausgleich bereit, weil ihr das Süsse rasch zuviel wurde.
Nach zwei Stunden kann ich
nicht mehr. Alle meine Energie ist weg, ich habe nur noch ein Bedürfnis: So rasch wie möglich raus hier! Die Pflegefachfrau montiert
eine Tischplatte am Rollstuhl, damit Mutter nicht erneut vornüberfallen kann.
Mutter wünscht mir gute Heimfahrt und erklärt, dass sie sich zusammen mit meinem Freund G.
eine Wohnung nehmen wolle. Da hätten sie
es dann lustig miteinander. Lachend bitte ich Mutter, mich vor ihrem Umzug
rechtzeitig zu informieren.
Das Unheimliche begleitet
mich noch ein gutes Stück nach
draussen. An der frischen Luft merke ich, wie ausgelaugt ich bin. Nach einem
Blick in den Spiegel vergesse ich die Absicht, unterwegs gemütlich Einkehr zu halten.
Es ist jetzt 19 Uhr. Die
Strassen sind leer, ich komme gut voran. Mit zunehmendem Abstand kehren meine
Lebensgeister wieder zurück.
Trotzdem wünschte ich mir diesmal,
eine gute Seele hätte zuhause für mich
ein feines, warmes Essen bereitet… Ich
lege eine glutenfreie tiefgekühlte Pizza in den Backofen und sinke erschöpft in den Lehnstuhl.