Donnerstag, 13. November 2014

Einschub: Ostern — oder mit dem Tod auf Tuchfühlung

20.04.2014
«Bist Du es?» begrüsst mich Mutter leise aus den Kissen, ohne meinen Namen nachzuschieben, wie sie das bisher immer zu tun pflegte, wenn jemand ins Zimmer tritt. Es ist Ostersonntag, kurz vor 17 Uhr.
«Ich bin noch nicht lange zurück; heute war ich den ganzen Tag in Österreich. Jetzt ist mir schlecht. Gibst Du mir ein Glas Wasser, bitte?»
Tatsächlich, Mutter schaut im Wortsinn leichenblass, wächsern aus. Ich erschrecke, nicht nur wegen dieser Blässe. Irgendwie scheint sonst noch etwas hier zu sein, etwas Unheimliches. Etwas, das mir bei allen bisherigen Sterbebegleitungen noch nie begegnet ist. Etwas, das mich das Fürchten lehrt.

Zur Feier des Tages habe ich Eiscreme mitgebracht: Je einen Becher Schokolade- und einen mit Vanilleglacé. «Glacé? Das ist noch besser als Wasser!» Mutter scheint sich zu freuen. «Hilf mir, damit ich aufstehen kann! Musst nur meine Hand halten, dann kann ich aufstehen.» versucht sie mich zu überreden. Sie besteht darauf, zum Glacé-Essen aufzustehen. Vom angebotenen Getränk trinkt sie mit aussergewöhnlich grossen Schlucken. Wir läuten der Pflegefachfrau, die Mutter bereitwillig in den Rollstuhl setzt, nachdem wir ihr gemeinsam den Morgenmantel angezogen haben. Wie schick sie darin aussieht! Das fröhliche Rot verleiht dem wächsernen Gesicht etwas Lebendiges, eine rosige Frische. Mutter fasst den samtenen Stoff an und erinnert sich sogleich an die edle Machart mit den schönen Goldknöpfen. «Ein Geschenk von R.!» klärt sie uns auf. Die Nennung seines Namens ist selten geworden. I. weilt meist bei Menschen aus ihrer frühen Vergangenheit; vor allem ihre Eltern scheinen sehr präsent zu sein.

Bevor es ans Glacé-Essen geht, verlangt Mutter, dass ich ihr ein Frottiertuch umlege, damit sie den schönen Morgenmantel nicht bekleckere. Als ich eine Papierserviette bringe, moniert sie das Frottiertuch. Erst damit ist sie für die Eiscreme bereit. Vanille und Schokolade von beidem etwas auf dem Löffel, so schmeckt es ihr am besten. «Es ist verrückt: Sie haben mir noch etwas eingepackt, ein Glas oder so. Und dann doch nicht mitgegeben.» «Wer hat Dir etwas eingepackt?» «Die Leute dort.» «In Österreich?» «Ja, klar. Diese !» Das letzte Wort habe ich nicht verstanden, zu unklar war Mutters Aussprache. «Wo bist Du denn gewesen in Österreich?» «In Vorarlberg, wo denn sonst?!» «Weisst Du noch, wer dabei gewesen ist?» «Die, die immer kommen, die mich diese Woche jeden Tag geholt haben. Nur mit dem Heimfahren klappt es nicht immer. Die sind sehr unpünktlich, wenn wir zurückfahren sollten. Das beste wäre, wenn man ein eigenes Auto hätte und selbständig zurückkehren könnte.»

Mit einem feuchten Waschlappen reinige ich nicht nur Mutters Lippen von den Essensresten, sondern auch die verklebten Augen und die mit kaltem Schweiss überzogene Stirn. Eine Nebenwirkung des Morphiums.

Heute mag I. nur eines der erblindeten Augen zeitweise geöffnet halten. Zwischen vielen Fantasiebildern erkennt sie erstaunlicherweise den Übergang von der weiss getünchten Wand zur ebenfalls weissen Zimmerdecke sowie die Umrisse eines der Porzellan-Wandteller, von denen sieben ihre Wand zieren. Märchenteller, die Mutter immer sehr viel bedeutet haben. Ganz aufgebracht behauptet sie, da sei jetzt nur noch einer. Sie will, dass ich den Hochlehner-Fauteuil aus ihrem Blickfeld entferne. Dieser Stuhl steht gerade in Mutters Rücken, an der gegenüberliegenden Wand. Sie kann ihn unmöglich sehen. Darum verschiebe ich Mutters Rollstuhl ein bisschen, wogegen sie sich heftig wehrt. Erst als ich am besagten Lehnstuhl schiebe, gibt sie sich zufrieden.

Die Pflegefachfrau bringt das Nachtessen: Birchermus und Halbgefrorenes, damit Mutter das Birchermus besser schlucken kann. Mutter staunt irgendwie und bemerkt, dass die andere Pflegerin doch etwas von Roastbeef und Auswahlmenü erzählt habe…  
Leider kann ich ihr nicht versichern, dass sie bestimmt Birchermus bestellt habe, denn oft bestellt das Personal Mutters Abendessen aus eigenem Gutdünken.
Nach wenigen Bissen will Mutter nicht mehr. Sagt, sie habe genug. «Ich muss noch zwei Bewohnern das Nachtessen eingeben. Mögen Sie noch solange aufbleiben, oder möchten Sie lieber jetzt schon ins Bett?» erkundigt sich die umsichtige Pflegehelferin. «Ja, ja, ist schon gut. Ich bleibe noch etwas auf.» Die kraftlose Antwort will nicht so richtig zum Inhalt passen. Kaum ist die Pflegerin gegangen bemerkt Mutter, dass sie sich jetzt nur noch auf das Bett freue, weil sie so müde sei, und ihr alles so weh tue, dass sie sich kaum mehr im Stuhl halten könne. Sie wehrt sich jedoch vehement dagegen, die Pflegerin zu rufen.

Wir können kein richtiges Gespräch führen; Mutter ist nicht wirklich da, obwohl sie zwischendurch eine Bemerkung aus dem Hier macht.
Und immer noch empfinde ich dieses Unheimliche; leise Furcht nimmt Besitz von mir. Nicht Angst, sondern Furcht, jenes tiefinnere Wahrnehmen von etwas leise Entsetzlichem, das sich wie unsichtbare Nebelschwaden im Raum bewegt.

Aus allen Gesprächen zwischen Pflegepersonen, Mutter und mir bastelt sie neue Geschichten. «Nicht einmal ein Messer haben sie mir gebracht.» reklamiert I. urplötzlich in die Stille. «Wozu benötigst Du denn jetzt ein Messer?» will ich wissen. «Um beim Käse die Rinde abzuschneiden.» Ich erkläre Mutter, dass sie im Rollstuhl sitzt und vor wenigen Minuten Birchermus zum Abendessen bekommen habe. Sie bestreitet das hartnäckig. Dann bittet sie mich, ihr zu helfen und vom Käse die Rinde zu entfernen. Dazu fuchtelt sie in die leere Luft, um mir den Käse zu zeigen.
Als die Pflegerin ein weiteres Medikament bringt, erkundigt sich Mutter, wann es denn heute Abendbrot gebe, sie hätte gerne Käse und Brot. Die Pflegerin anerbietet sich, später etwas Brot mit Butter und Konfi zu bringen, weil sie keinen Käse auf der Abteilung vorrätig habe.
Mutter willigt zufrieden ein und ich überlege, das nächste Mal etwas rezenten Käse zu bringen, den Mutter zeitlebens gerne gegessen hatte.
Obwohl Mutter in den letzten Jahren im Pflegeheim ihre Liebe zu Süssigkeiten entdeckt zu haben scheint, kann ich ihre Sehnsucht nach Rezentem gut verstehen. Ich erinnere mich an meine Kindheit: Beim Backen von Süssem hielt Mutter immer Bündnerfleisch, Appenzeller Käse und Essiggurken für den Ausgleich bereit, weil ihr das Süsse rasch zuviel wurde.

Nach zwei Stunden kann ich nicht mehr. Alle meine Energie ist weg, ich habe nur noch ein Bedürfnis: So rasch wie möglich raus hier! Die Pflegefachfrau montiert eine Tischplatte am Rollstuhl, damit Mutter nicht erneut vornüberfallen kann.

Mutter wünscht mir gute Heimfahrt und erklärt, dass sie sich zusammen mit meinem Freund G. eine Wohnung nehmen wolle. Da hätten sie es dann lustig miteinander. Lachend bitte ich Mutter, mich vor ihrem Umzug rechtzeitig zu informieren.

Das Unheimliche begleitet mich noch ein gutes Stück nach draussen. An der frischen Luft merke ich, wie ausgelaugt ich bin. Nach einem Blick in den Spiegel vergesse ich die Absicht, unterwegs gemütlich Einkehr zu halten.

Es ist jetzt 19 Uhr. Die Strassen sind leer, ich komme gut voran. Mit zunehmendem Abstand kehren meine Lebensgeister wieder zurück. Trotzdem wünschte ich mir diesmal, eine gute Seele hätte zuhause für mich ein feines, warmes Essen bereitetIch lege eine glutenfreie tiefgekühlte Pizza in den Backofen und sinke erschöpft in den Lehnstuhl.