Sonntag, 15. Juni 2014

Entre Act — Bleibt am Schluss nur der «Bilanz-Suizid»?

Es geht mir im Blog absolut nicht um meine Psychohygiene — dazu müsste ich ihn nicht veröffentlichen. Nein, es geht mir darum, Bewusstsein zu schaffen, damit auch jene Menschen wissen, wie sich unsere «Gesundheitspolitik» auswirkt, die im Moment noch nicht selber betroffen sind. Solange Missstände totgeschwiegen werden, ändert sich nichts! 

Die heute im Pflegeheim meiner Mutter herrschenden Zustände sind umso schmerzlicher zu ertragen, als gerade dieses Heim bis 2012 zu den herausragend geführten Pflegeheimen zählte!
Das, was heute hier geschieht, geschieht aus rein politischen Gründen. Dass es auch anders gehen könnte, dafür gibt es glücklicherweise viele Einzelbeispiele. Diese sind jedoch für meine Mutter und alle solchermassen ausgelieferten Bewohner kein Trost. Im Gegenteil.

Für mein Empfinden
  • Ist es menschenunwürdige Folter, wenn ein gelähmter, erblindeter Mensch über mehrere Stunden vor Getränken sitzen muss, die er alleine nicht erreichen kann.
  • Ist es Misshandlung, wenn dieser Mensch, der ja seine Sitzposition nicht alleine verändern kann, mit einem grossen, offenen Dekubitus am Steissbein mehrere Stunden in seinem Rollstuhl ausharren muss, noch dazu ohne Polsterung durch ein spezielles Sitzkissen.
Eine Frage der Ethik bleibt es so oder so.

Zugegeben, die Pflege eines seelisch und körperlich fragil gewordenen, hochbetagten Menschen ist aufwendig und zuweilen auch anstrengend. Gerade darum lebt er ja in einer professionellen Institution, von der wir erwarten müssen, dass sie — nicht nur ökonomisch straff, sondern menschlich gut geführt — ausgewiesene, gut ausgebildete und charakterlich integre, empathische Fachleute mit der Pflege betraut.

Die sharholdervalue-geprägte Sparwut, die in den letzten Jahren unter dem populistisch wirksamen Titel «Verursacherprinzip» in allen Bereichen unseres Lebens Einzug hielt, zeigt heute besonders in der Geriatrie ihre menschenverachtende Fratze. Darunter zu leiden haben ausgerechnet jene Menschen, für welche die Generationen unserer Grosseltern und Eltern entsprechende soziale Institutionen geschaffen hatten. Notabene mit viel weniger Geld, als uns heute zur Verfügung steht und unter viel grösseren finanziellen Opfern, als sie uns heute abverlangt werden.
Ganz besonders stossend empfinde ich es, dass es genau diese Generation ist, die sich die Altersvorsorge und –versorgung am Mund abgespart hatte, die — jetzt hilflos und bedürftig geworden — unter jenen Zuständen zu leiden hat, die sie ursprünglich verhindern wollte!

Umso heuchlerischer und anmassender mutet das Geschrei jener Moralisten an, die nicht müde werden, in der aktuellen, wichtigen Diskussion um den altersbedingten «Bilanz-Suizid» (welch ein menschenverachtender Begriff! —Mein persönliches Unwort des Jahres!), die sogenannte «Palliative Pflege» zu loben, mit der es heutzutage für alle Menschen zumutbar geworden sei, die auferlegten Lasten von Alters- und Krankheitsbeschwerden gottgewollt zu ertragen!
Keine Frage: Die Gefahr, dass die diskutierte Möglichkeit aufgrund des zunehmenden gesellschaftspolitischen (Kosten-)Drucks zum individuellen Müssen mutiert, ist im heutigen Zustand der fortlaufenden, sharholdervalue-orientierten, lieblosen Entsolidarisierung nicht von der Hand zu weisen.

Aus verschiedenen Gründen bin ich grundsätzlich keine Befürworterin von Suiziden. Trotzdem erscheint mir heute, mit 62 Jahren und im Blick auf das eigene Altwerden, die in jungen Jahren lebenslänglich abgeschlossene Mitgliedschaft bei EXIT als ein wenigstens tröstlicher Silberstreifen am Horizont. Bleibt zu hoffen, dass mir eine solche letale Entscheidung erspart bleiben möge...

Als humanistisch aufgeklärte Gesellschaft sind wir daran, inbezug auf Menschenleben ein gefährliches Terrain zu betreten. Diesbezüglich zeigen auch Quervergleiche mit pränatalen Voruntersuchungen und der Auswahl «würdiger» Embryonen zu verschiedenen Zwecken in eine erschreckende Richtung!
Anfang und Ende eines Menschenlebens drohen zur gesellschaftspolitisch planbaren Manipulationsmasse zu verkommen...

Ein berühmter Denker drückte es einmal so aus: «Das, was die Menschheit den Tieren antut, tut sie früher oder später auch den Menschen an. Vermutlich eher früher als später.» —