3.4.2014
Heute bin ich doch etwas erstaunt. Bei meinem Besuch liegt I.
angezogen im Bett. Sie bekommt gerade das Abendessen eingegeben. Die FaGe bestätigt, dass Mutter heute im
Rollstuhl gesessen und dort das Mittagessen eingenommen hätte, was ihr gut getan habe.
Etwa um 13:30 Uhr habe sie ins Bett gewollt.
I. scheint gut drauf zu sein. Ihr Teint ist wieder etwas
rosiger als in den letzten Wochen.
An der Wand hängt
ein Fotokalender mit Bildern aus dem Bergdorf, Mutters Heimat. Jetzt, im April,
kommt das erste Frühlingsbild
mit jener ganz speziellen «Frühlingspatina»
die einen auf 1800 Meter über Meer jedes Jahr von neuem berührt, ja, verzaubert. Im
Vordergrund zeigt es Pelzanemonen, im Hintergrund, leicht verschwommen, zwei
charakteristische Berge. Ich erzähle
I. das Foto — und scheine
damit ein Signal gegeben zu haben. Sofort wähnt
sich I. am «schönsten
Ort auf der Welt» und erzählt
vom Spaziergang, den sie gerade über
den Höhenweg macht. Dieser
führt nämlich an einer jener Stellen
vorbei, wo besonders viele Pelzanemonen blühen.
Mir fällt
auf, dass I. heute körperlich
viel mehr in Bewegung ist, als in den letzten zwei Wochen. Sie nestelt an der
Kleidung, reibt sich an der Nase und am Auge, und hält zeitweise den Trinkhalm selber.
I. will etwas von den Wasserfällen
erzählen, doch das Wort
will ihr nicht gelingen. «Manchmal kann ich gar nicht mehr
richtig sprechen.» — «Gell,
manchmal weiss man ein Wort oder einen Namen, und just dann, wenn man das
aussprechen will, ist's weg, vergessen.» —
«Ja,
genau so. Aber bei mir ist es natürlich
altersbedingt.» reagiert sie glasklar im Hier und Jetzt.
Mutter erzählt,
dass sie sich gar nicht erklären
könne, weshalb sie jeden
Tag Besuch von der «Frau von der Kirche» bekomme. Statt wie bisher Schokolade,
habe diese die letzten Tage jeweils Kalender verteilt. «Meinst du Frau R.?»
— «Nein, eine andere … habe den Namen vergessen. Frau R.
kam früher auch schon mehrmals
zu mir, mit Schokolade.»
Ich glaube, I. verwechselt eine neue deutsche FaGe mit der ebenfalls deutschen Diakonin.
«Hat die Schule schon begonnen?» fragt sie mich unvermittelt. «Welche
Schule meinst Du?» — «Immer
im Frühling beginnt doch
die Schule wieder. Ich muss wissen, ob sie schon begonnen hat, ob ich meine
Kinder in die Schule schicken muss. …
… Gut, ich habe meine Kinder jetzt einmal geschickt. ... Wir werden sehen.»
Dann erzählt I.
aus ihrer Kinder-, Schul- und Jugendzeit, von vielen Abenteuern und Streichen,
die sie erlebt und angezettelt hatte. Ihre Stimme ist erstaunlich fest, ihre
Sprache meist sehr klar und deutlich. Etwas irritiert vernehme ich hingegen
(Schimpf)Wörter aus dem
Mund meiner Mutter, die bisher nicht zum Vokabular unserer Familie gezählt haben.
Wir machen noch einen virtuellen Abstecher zu den vor einigen
Wochen gekauften weissen Schuhen (Fiktion), zum Bazar der Kirchgemeinde und zum
Saisonausverkauf der Kleider- und Schuhgeschäfte im Bergdorf. Nach einer Episode
aus ihrem Arbeitsalltag als Posthalterin in der Zweig-Poststelle fragt mich
Mutter plötzlich, wann das
neue Pflegeheim im Bergdorf bezugsbereit sei (Realität) und ob ich dann dort hinziehen würde. Die Antwort gibt sie gleich
selber: «Mit
Deiner Praxis ist das ja nicht möglich.
Im Dorf hättest Du kein
Auskommen damit und in der Stadt hat es genug solche, die haben nicht auf Dich
gewartet. Ausserdem wäre
das ja widersinnig, wenn Du täglich
vom Dorf in die Stadt hinunter fahren müsstest.
… … Ich hingegen würde gerne ins Bergdorf zügeln.» — «Mami, du würdest oben fast niemanden mehr kennen.»
— «Das macht mir
nichts aus, das Dorf ist meine Heimat. Darum geht es.» Da ist das nächste Stichwort gefallen, das
mit einem Schalter versehen zu sein scheint: Heimat. «Nimmst Du mich
heute mit?» — «Wohin?»
— «Nach Hause. … Sag jetzt nur nicht, ich sei
hier zu Hause! Hier, in diesem Korridor, bin ich ganz sicher nicht zuhause! … Diese Woche musste ich dreimal
im Wald und einmal draussen im Korridor schlafen, in so einem uralten, unbequemen Kinderwagen.»
Unvermittelt und genau zum richtigen Zeitpunkt bittet mich I., ihr
die Tagesschau im TV einzuschalten.
Heute fällt
Mutter der Abschied leicht. Ich solle aufpassen beim Autofahren und bald wieder
kommen, ermahnt sie mich, und G. grüssen,
von dem sie bei meinem Kommen wissen wollte, was er denn so mache.
Wiederum habe ich innerhalb einer guten Stunde eine grosse Spannbreite
an Erlebnissen erfahren. Unbeschreiblich, was ein Gehirn zu leisten imstande
ist. Fast ein bisschen beängstigend,
diese Gleichzeitigkeit der Welten nicht nur als quantenphysikalische Annahme zu
verstehen, sondern sie hautnah zu erleben.