29.3.2014
Heute treffe ich etwa um 11 Uhr im Pflegeheim ein. Bis zum
Mittagessen bleibt uns eine gute Stunde Zeit.
«Schön, dass du da bist. Ich bin so
froh, dass du gekommen bist!» empfängt
mich Mutter mit leiser Stimme. Um nach einer Weile fortzufahren: «Die
haben hier nämlich alle ein
Brett vor dem Kopf. Obwohl ich jeden Tag aufstehe, sagen sie mir immer wieder,
ich sei zu schwach zum Aufstehen. Die merken gar nicht, dass ich schon längst aufgestanden bin, wenn sie
kommen.» —
«Kannst
Du denn allein aufstehen?» —
«Nein,
aufstehen kann ich nicht allein, da brauche ich Hilfe, weil irgend etwas im Körper blockiert ist. Aber laufen
kann ich wieder sehr gut allein!» —
«Wo
ist denn etwas blockiert in Deinem Körper?»
Mutter deutet auf ihre rechte Hüfte.
Vor etwa 20 Jahren liess sie ihre beiden Hüftgelenke
wegen Arthrose operieren. I. bittet mich, ihr beim Aufstehen zu helfen. Als ich
ihr sage, dass ich das wegen ihrer Blockierung nicht allein könne, sondern eine Pflegerin
rufen müsse, erklärt sie, dass ich nichts tun müsse, ausser sie in ihrem Wunsch,
aufzustehen, zu unterstützen.
Das verspreche ich.
Dann erzählt
mir Mutter, dass sie heute Vormittag in W. gewesen sei, im Spital. Dort habe sie einen Besuch bei ihrer Mutter gemacht,
die sich sehr gefreut habe, sie zu sehen.
Kürzlich
schilderte sie mir, wie sie mit ihrer Mutter auf einem Friedhof gewesen sei und
dort gesehen habe, dass da kein Platz mehr sei für
sie. Dabei wirkte sie sehr traurig. Damals tröstete ich Mutter, dass es im Urnengrab ihres vor
vier Jahren verstorbenen Mannes einen Platz für
sie habe.
Das Mittagessen wird von einer Pflegerin eingegeben. Wir
unterhalten uns über das
Abtauen meines Kühl- und
Gefrierschrankes, welches mir dieses Mal besonders Schwierigkeiten bereitete,
weil die Eisschicht viel zu dick gewesen war, um in einer Nacht abzutauen. Der
körperliche Einsatz verursacht Muskelkater, der sich nun langsam bemerkbar macht. Die FaGe gibt mir den
Tipp, den Kühlschrank mit dem Föhn abzutauen, was ich bestimmt
versuchen werde.
Mutter beteiligt sich nicht an unserem Gespräch. Nach der halben Portion hat
sie genug. Als Folge von «Parkinson» wird Schlucken immer schwieriger für
sie, weshalb sie manchmal nicht gerne trinkt. Verständlich.
«Rosemarie, du musst mir beim Aufstehen helfen! Du musst
nicht arbeiten, nur den Pflegerinnen sagen, dass ich aufstehen darf und sie mir
helfen müssen.»
Diesem Wunsch komme ich beim nächsten
Mal nach, als die FaGe den Espresso für
I. bringt.
«Ich möchte
so gerne sterben.» klingt es unvermittelt aus den Kissen. «Ja
was denn nun, willst du aufstehen oder sterben?» —
«Mach'
dich nicht lustig!» — «Nein,
ich mache mich nicht lustig, sondern nehme beide Wünsche sehr ernst, das Aufstehenwollen wie das
Sterbenwollen; sehr ernst sogar.» Ich nutze die Gunst der Stunde, weil I.
das Thema Sterben bisher nie ansprechen wollte. «Was hält
Dich denn vom Sterben ab?» —
«So
eine dumme Frage!» weist Mutter mich zurecht. «Ja, das ist wahr, das war wirklich
eine blöde Frage. Ich
meinte eigentlich: Was hält
Dich noch zurück?»
— «Das weiss ich
nicht, ich bin schliesslich noch nie gestorben!» —
«Ja,
klar. … Ich auch nicht… Was meinst Du, gibt es noch
etwas zu tun, möchtest oder
musst Du noch etwas erledigen?» —
«Nein.»
— «Müssten ich oder wir beide miteinander
noch etwas erledigen?» — «Nein,
nichts.»
— «Müsste Dich noch jemand besuchen
kommen?»
— «Nein, nur meine
Leute.»
— «Wer sind deine
Leute?»
— «Du!»
— «Ich bin ja da und
ich komme immer wieder. … Sonst
noch jemand?» — «Ich
erwarte Besuch aus Amerika…» Endlich
ist das ausgesprochen, was Mutter seit Monaten bewegt, was sie im letzten Herbst einmal
geäussert und seither stets
verneint hat: ihre Sehnsucht nach J.,
ihrem Sohn, der 1992 nach Kalifornien auswanderte und den sie seither nie mehr
gesehen hat. «Möchtest
Du, dass J. kommt?»
hake ich nach. «Ja.» — «Gut,
er ist wegen des Studiums telefonisch schlecht zu erreichen. Ich schreibe ihm
heute eine E-Mail und teile ihm Deinen innigen Wunsch mit. Ob er allerdings
kommt, steht auf einem anderen Blatt. Du weisst, dass die Chance dafür klein ist. Seit Deinem Sturz
hat er ausser der Karte mit Genesungswünschen
nicht mehr nach Dir gefragt.» —
«Doch!
Er schreibt mir jede Woche. Das weisst du nur nicht.» —«So? Gut, ich schreibe ihm!»
— «Ich wünsche gar nichts mehr…» kommt ganz leise und resigniert Mutters
Antwort. — «Mami,
ich kann Deine Enttäuschung
und Deinen Schmerz gut verstehen und nachfühlen.
Es muss furchtbar sein, wenn man ein geliebtes Kind, das man unter solch
schwierigen Umständen
geboren hat, 20 Jahre nicht mehr sieht. …
Ich will alles versuchen, dass J. kommt.» —
«Gibst
du mir noch Kaffee, bitte?»
I. ist erschöpft
und möchte schlafen. Heute
kann ich mich gut verabschieden. Mit meinem Versprechen, dass ich wieder komme,
wünscht sie mir eine gute
Heimfahrt und ermahnt mich, gut zu mir zu schauen.