Montag, 9. Juni 2014

Auf die Männer ist kein Verlass

12.4.2014
Neun Tage sind vergangen seit meinem letzten Besuch. Heute bin ich um 15:45 Uhr, also zur Zvierizeit, angekommen. Mutter liegt wie letztes Mal angezogen im Bett. Offenbar steht sie jetzt regelmässig am Vormittag auf, um ihr Mittagessen im Rollstuhl einzunehmen. Sie hat Durst und trinkt 100 ml Rivella mit dem Röhrchen, das sie selber halten kann. In der Trinkmengenkontrolle sehe ich, dass ihr letztmals um 13 Uhr etwas zu Trinken angeboten worden ist. Eine lange Zeit des durstigen Wartens, dünkt mich, bedenkt man, dass krankheitshalber nicht mehr als drei, höchstens vier Schlücke aufs Mal möglich sind.
Mutter offeriert mir Kaffeegutscheine und bittet mich, für sie auch etwas aus der Cafeteria mitzubringen. Zum Trinken möchte sie weder Schwarztee (Tradition), noch heisse Schokolade (weiterer Favorit), sondern einen Kaffee mit zwei Zuckern. Glücklicherweise gibt es heute Erdbeertörtchen; die Füllung lässt sich gut mit der Gabel zerdrücken, so dass Mutter die Häppchen relativ gut schlucken kann. Nach gut der Hälfte hat sie genug gegessen. Zum Kaffee muss ich I. überreden; erst nach mehreren Versuchen nimmt sie zwei Schlücke. Immer wieder erklärt sie, dass sie schon eine grosse Menge an heisser Schokolade getrunken habe. In der Trinkmengenkontrolle ist davon nichts festgehalten.

Auch heute ist Mutter körperlich aktiv, versucht mehrmals, sich aufzurichten und will einen Trinkbecher vom imaginären Tisch fassen.

Immer wieder staune ich, wie sich Mutters Gesicht verändert. Heute fallen mir besonders die Anzeichen auf, die den Flüssigkeitsmangel anzeigen. So wundert es mich nicht, dass ich später von der FaGe dazu angehalten werde, auch den wenigen Kaffee (ca 25 ml), einzutragen, weil es auf jeden Milli-Liter ankomme.

In der vergangenen Woche liess Mutter mich anrufen mit der Bitte, ich solle kommen. Die FaGe versicherte mir am Telefon, dass nichts Besonderes vorgefallen sei, was aus ihrer Sicht Anlass für mein sofortiges Kommen sein könnte. Aus beruflichen Gründen konnte ich der Bitte nicht sofort entsprechen. Ausserdem wollte ich auch keine falschen Signale setzen. Und so liess ich Grüsse ausrichten und das Versprechen, dass ich sobald als möglich kommen werde. Entgegen meiner Annahme, Vorwürfe zu bekommen, weil ich sie noch ein paar Tage habe warten lassen, erkundigt sich Mutter bloss, ob ich über ihre Bitte erstaunt gewesen sei. Irgendwie eine heikle Frage. Statt mit ja oder nein antwortete ich mit der Beschreibung der verschiedenen Tätigkeiten, mit denen meine Woche ausgefüllt war, was Mutter befriedigt zur Kenntnis nimmt.

«Was macht das Kätzchen?» fragt I. unvermittelt. «Ich habe schon lange keine Katze mehr. Meinst Du T.?» «Ach jaund das Hündlein?» «Müggli ist letzten November gestorben.» «Oh, das ist traurig für Dich! Hast Du keinen neuen?» «Nein, bis jetzt nicht. Mir fehlt die Zeit, um mich auch noch um einen Hund zu kümmern.» «Das ist nicht gut für Dich! Gesünder wäre, wenn Du wieder einen Hund hättest, dann müsstest Du regelmässig an die frische Luft. Das täte Dir gut!»

«Ich war bei Familie St. zu Besuch.» «Bei St.? Der Zeitschriften-Verträgerin?» kommt mir in den Sinn, als wir vor 55 Jahren in O. wohnten. «Ja, bei ihrer Tochter.» Irgendwie habe ich so eine vage Erinnerung, dass Mutter Jahrzehnte später in Z. diese Tochter getroffen hatte. Der Zusammenhang bleibt unklar. «In Z. oder in O.?» versuche ich eine Klärung. «In O., an jener Strasse, wo die Treppe hinaufführt.» Die Beschreibung der Örtlichkeit stimmt. «Ah ja? Was hast Du dort gemacht?» «Wir haben Kaffee getrunken. Aber ihr Mann hat kein Wort gesprochen, obwohl er früher immer lustig und freundlich gewesen war. Diesmal sass er da, wie ein Mehlsack. Nur zum Schluss sagte er, es sei nett gewesen.» ... «O. hat ein schönes Pflegeheim, dorthin möchte ich!» «Meinst Du oben das B.?» will ich wissen. «Nein, nicht das B. Das Heim ist nicht oben.» kontert Mutter bestimmt. «Bist Du sicher, dass Du das Pflegeheim in O. meinst und nicht das im Bergdorf?» ich habe kurz vorher Mutter einen Artikel aus der Dorf-Zeitung vorgelesen, der von einer ihrer Schulkolleginnen handelte. Darum bin ich mir sicher, dass Mutter das Bergdorf meinte. «Ja, klar, das Neue.» «Aha.» «Dort will ich hin, dort ist es schöner, als es hier ist.» «Da musst Du Dich noch etwas gedulden, das wird frühestens im Oktober fertig sein. Wie denkst Du denn, dass Du diese lange Reise mit den vielen Kurven und dem grossen Höhenunterschied bewältigen wirst? In der Vergangenheit hatte Dir die Höhenlage ja nicht mehr gut bekommen.» (Mutter war letztmals vor ca. 20 Jahren im Bergdorf und dabei wurde sie bei jedem Besuch krank.) «Das ist doch keine Sache! Das können andere auch, also kann ich das auch! Sonst machen wir halt zwei Tage.»

Dann kommt Mutter auf ihren Anruf zurück und erklärt, dass sie es einfach nicht mehr ausgehalten habe hier. Und dass auch ihr Mann R. nie habe ins Heim ziehen wollen. Weil es andere so gewollt hätten, habe er sich nicht zu wehren getraut, obwohl sie dies einander versprochen hätten, und nur darum sei sie jetzt auch da. «Auf die Männer ist kein Verlass!» so ihr Fazit. Hier müsse sie jede Nacht im Wald schlafen, wo man sie einfach irgendwo abstelle. Seit vielen Monaten erzählt Mutter immer wieder, sie habe im Wald schlafen müssen und Angst gehabt. Bis heute habe ich leider noch nicht herausgefunden, welche Verknüpfung dahinter verborgen ist.

Als die FaGe mit Medikamenten kommt, verabschiede ich mich. «Chumm guet hei und heb dr Sorg!» ermahnt sie mich. Ich verspreche beides und auch, dass ich wiederkomme.

Ein weiterer Kurs aus dem Praxis-Seminar «Angewandte Quantenphysik ­ Die Gleichzeitigkeit des Seins» ist absolviert.

Mein «Danke für alles!» an die Pflegefachfrau rührt diese zu Tränen, weil es seit dem unrühmlichen Eclat 2012 nicht mehr oft vorkomme, dass sich Angehörige bedanken würdenDamals stellte der Vorstand die sehr beliebte und äusserst kompetente Heimleiterin eines Morgens überraschend und ohne weitere Erklärung frei, ohne dass diese sich hätte verabschieden dürfen, was allenthalben einen tiefen Schock ausgelöst hatte.
Seither haben wir ziemlich «strube» Zeiten erlebt und ich kann nicht behaupten, dass es bis jetzt viel besser geworden wäre. Einem Vergleich mit dem Damals hält das Heute auf keiner Ebene stand.