11.5.2014
Heute ist Muttertag. Früher
war dies ein fröhlicher
Familiensonntag. Seit Mutter im Pflegeheim wohnt, ist er nicht mehr so
unbelastet; wie es keiner der gefühlsschwangeren
Feiertage wie Geburtstag, Weihnacht, Ostern mehr sein kann.
In den letzten Wochen hat Mutter immer wieder gezeigt, dass sie
Freude hätte, wenn ich mit ihr
das Mittagessen einnähme. Heute will ich ihr diesen Wunsch erfüllen. I. geht nicht mehr gerne
in den öffentlichen
Speisesaal des Zentrums. An guten Tagen isst sie im kleinen Speiseraum auf der Etage,
an weniger guten oder wenn sie Besuch hat, bleibt sie im Zimmer. Damit sich
Mutter freuen kann, melde ich meinen Besuch etwa eine Stunde vorher an, kurz
bevor ich mich auf den Weg mache. Ich treffe es gut mit meinem Anruf, die FaGe
befindet sich gerade bei I. und hält
ihr den Telefonhörer ans
Ohr. Mutter ist präsent,
zeigt Freude und bedankt sich.
Bei meinem Eintreffen erkundigt sie sich, wo ich sie denn
gefunden hätte, da sie
nicht in ihrem Zimmer sei. Aha. Mutter weilt also wieder in einer anderen Dimension.
Zum Muttertag hat das Alterszentrum einen Brunch mit Buffett organisiert. Die FaGe
erkundigt sich bei I. nach Ihren Gelüsten.
I. kann sich nicht recht zu einer Auswahl entscheiden. Zu Spiegelei, Fleischkäse, etwas Rösti und zum Dessert «Crème brûlée»
sagte sie schliesslich ja.
Als wir mit den Speisen zurückkommen, hält
sich ihre Begeisterung in Grenzen. Dafür
verlangt sie nach Brot, was ich nochmals unten holen muss. Die FaGe muss
Medikamente ausgeben, bevor sie der Mutter beim Essen helfen kann. Oft habe ich
in den letzten Wochen erlebt, dass Mutter es schätzte,
wenn ich ihr die Speisen eingebe. Doch heute schaltet sie stur auf Widerstand
und äussert alle möglichen Zusatzwünsche. Unser Essen wird kalt,
was Mutter nicht stört,
weil es ja eh immer kalt sei. Ich merke, wie ich an meine Grenzen komme. Die
Szene erinnert mich an den heutigen Beitrag einer Mutter auf «Twitter»:
«Der
Sohn hat zum Muttertag eine neue Choreografie für
den morgendlichen Trotzanfall einstudiert…
Bin ganz bewegt.» — Im Gegensatz dazu bin ich nicht bewegt, sondern überfordert. Was vielleicht ja
auch eine Form von Bewegtsein wäre…
Als die FaGe kommt, um beim Essen behilflich zu sein, isst Mutter
lammfromm alles, was ihr angeboten wird. ...
Später bittet
sie mich, sie heimzubringen, da sie müde
sei. Nach dem Ort ihres Daheims befragt, nennt sie zwei verschiedene frühere Adressen. Der FaGe erklärt sie, dass ich sie nicht
heimfahren wolle und diese darum ein Taxi bestellen solle. Diese Bemerkung trifft
mich so tief, dass ich einen Moment gegen die Tränen
kämpfen muss.
Zum Abschied zeigt mir Mutter die kalte Schulter. Das Schlimme
daran dünkt mich, dass ich
nicht weiss, ob sie das ernst meint.
Die FaGe erzählt
mir, dass Mutter fast täglich
darum bitte, sie solle mich anrufen, ich würde
sie schon nach Hause fahren.
Auf der Heimfahrt wird mir plötzlich
klar, welch tiefgreifende Auswirkungen eine Äusserung
aus meinem Kindermund bis zum heutigen Tag hat. Ich war viereinhalb Jahre alt, als
mein Bruder zur Welt kam. Mutter erlitt eine Schwangerschafts-Vergiftung, die
sie für fast die ganze
Dauer der Schwangerschaft mit Übelkeit
und Erbrechen (den Galle-Geruch habe ich heute noch in der Nase) ans Bett
fesselte, und die dazu führte,
dass Mutter die letzten Wochen fern der Familie in der Nähe der Geburtsklinik verbringen musste. Als sie mit
dem Säugling nach Hause
kam, soll ich einige Tage später
gesagt haben «Gäll, dë
bringed mer wieder zrugg.» Eine Bemerkung, die Mutter damals
offenbar so tief kränkte,
dass sie mir diese bis zum heutigen Tag nachträgt,
was erst etwa vor 2 Jahren zufällig
ans Tageslicht kam.
Gespürt habe
ich die plötzlich
aufgetauchten, mir unerklärlichen
Ressentiments meiner Mutter mein ganzes Leben lang. Bis heute ist es so, dass
mir I. bei allen sie betreffenden Entscheidungen oder Handlungen eine negative
Absicht unterstellt. Es ist eine wiederkehrende, verletzende, schmerzhafte
Erfahrung, bestimmt auch für
Mutter. Leider ist es weder mir noch der früheren
Heimleiterin gelungen, I. von der harmlosen Normalität meiner kindlichen Reaktion auf die Geburt eines
Geschwisters zu überzeugen.
Der Gedanke, dass Mutter mit diesem Missverständnis
im Herzen ihr Leben beenden muss, macht mich traurig. Obgleich ich klar weiss, dass ich dafür nicht verantwortlich bin, fühle ich mich ohnmächtig und ausgeliefert.