Donnerstag, 10. Juli 2014

Zusammenbruch im Rollstuhl

25.06.2014
Vor ein paar Tagen ist «Shiva» bei mir eingezogen. Eine franz. Bulldogge (Bully) wiederum, diesmal dunkelgold gestromt, 10 Wochen alt.

Heute ist Mittwoch. «Shiva» und ich geniessen gerade den schönen Sommernachmittag in einem lichten Wäldchen im Thurtal, als kurz vor 17 Uhr mein Handy klingelt. «Pflege W.» steht auf dem Display. Kein gutes Zeichen.
Die langjährige diplomierte Pflegefachfrau, die I. seit ihrem Einzug 2008 kennt, meldet, dass es Mutter gar nicht gut gehe. Auf der Runde bei Dienstantritt sei sie sehr erschrocken: Sie habe Mutter im Rollstuhl zusammengebrochen angetroffen. Einzig das fix montierte Tischchen habe einen neuerlichen Sturz verhindert. Mutter sei völlig kraft- und energielos, möge nicht mehr und könne kaum noch sprechen. Das Gesicht habe sich sehr verändert. Die Pflegefachfrau befürchtet, Mutter könnte diese Nacht nicht überleben.
Während sich der Welpe unbeschwert hingebungsvoll mit Hölzchen und Blättern beschäftigt, die der Waldboden grosszügig zur Verfügung stellt, beruhige und tröste ich die Pflegefachfrau am Telefon und verspreche im Blick auf einen anstehenden Geschäftstermin , sobald als möglich vorbeizukommen.
Nachdem alles Geschäftliche erledigt und der Welpe gefüttert ist, fahre ich ins Pflegeheim, wo ich etwa um 20 Uhr ankomme. Der Hund muss im Auto warten. 

Mutter liegt erschöpft im Bett, ist geistig präsent und erzählt mit leiser Stimme, sie sei furchtbar müde, weil sie wie immer so lange habe im Rollstuhl sitzen müssen. Doch, doch, sie habe schon geläutet, doch sei leider niemand gekommen. Da, in dieser Situation im Rollstuhl, habe sie befürchtet, jetzt sterben zu müssen. 
Mutter atmet schwerer und hustet mehr Schleim ab, als bei meinen letzten Besuchen. Auch das Geräusch von Wasser auf der Lunge ist deutlicher geworden. Allerdings, so scheint es mir, kann ich bei I. zum ersten Mal, seit ich sie bewusst kenne! einen Anflug von Versöhnlichkeit beobachten.
Mutter und die Pflegefachfrau berichten, dass vor ein paar Minuten gerade der Arzt da gewesen sei und angeordnet habe, dass I. jederzeit Sauerstoff bekommen dürfe, wenn sie nicht mehr gut atmen könne, also keine Angst vor Ersticken haben müsse.
Die Pflegefachfrau entschuldigt sich ganz verlegen für ihren Anruf. Ich versichere nochmals, dass sie richtig gehandelt hat. Sie entschuldigt sich auch für ihre Kolleginnen aus der vorhergehenden Schicht, die es anscheinend unterlassen haben, Mutter rechtzeitig vom Rollstuhl wieder ins Bett zu bringen.

Mutters Erschöpfung ist offensichtlich. Sie nimmt zwar erfreut zur Kenntnis, dass ich ihren Rat befolgt und wieder einen Hund gekauft habe, mag aber nicht mehr weiter darüber sprechen. Während ich erzähle, schläft sie ein.

Wie versprochen läute ich nach der Pflege, bevor ich gehe. Weil die Klingel fest in Mutters Hand unter der Decke steckt, benütze ich die andere Klingel. Es ist jene am langen Kabel für den Rollstuhl. Doch nichts geschieht; das rote Licht, welches das Läuten anzeigt, fehlt. Diese Klingel funktioniert gar nicht!!
Kein Wunder, ist niemand gekommen, als Mutter am Nachmittag um Hilfe l
äutete!
Ich mache die FaGe auf die nicht funktionierende Klingel aufmerksam. Bei der Kontrolle stellt die FaGe fest, dass diese Klingel nicht in der Steckdose eingesteckt gewesen ist. Ihr lakonischer Kommentar: «Kann passieren... jetzt haben wir es ja gemerkt.»

Einmal mehr fahre ich konsterniert nach Hause.

Anderntags rufe ich die Stationsleitung an, die derzeit vakant und abwechslungsweise durch die Pflegefachfrauen besetzt ist. Diesmal treffe ich auf eine dipl. Altenpflegerin, die ich schon mehrmals als sehr einfühlsam, verantwortungsbewusst und kompetent erlebt habe. Ich bringe den gestrigen Vorfall zur Sprache und bitte sie, dafür besorgt zu sein, dass die Klingel jedesmal kontrolliert wird, bevor man Mutter allein im Rollstuhl zurücklässt was diese Pflegerin als jene Selbstverständlichkeit betrachtet, die es auch ist. Interessanter finde ich allerdings noch ihren Hinweis, dass man für ihr Dafürhalten Mutter gar nicht mehr allein im Rollstuhl sitzen lassen dürfte.


Ich nehme nochmals Bezug auf das Gespräch mit der Heimleiterin und die dabei getroffenen Massnahmen und bitte darum, mit dem zerbrechlichen Körper und der fragilen Seele von I. entsprechend sorgfältig umzugehen und sich genügend Zeit für diese Sorgfalt zu nehmen.