Sonntag, 30. September 2018

Zwiespalt

25.8.2014
                          
Mutter ist geistig klar und völlig präsent. Das ändert sich während des ganzen Besuchs nicht. Die Absetzung der Parkinson- und anderen Medikamente tut ihr offensichtlich gut! Durch die Morphiuminjektionen, die jetzt offensichtlich regelmässig verabreicht werden,
ist sie nahezu schmerzfrei. Sie wirkt ruhig, entspannt und spricht ziemlich klar artikuliert, wenn auch so leise, dass ich sie nur verstehen kann, wenn ich mich ganz nah zu ihr hin beuge.
Der Verwesungsgeruch ihres Ausatems verschl
ägt mir jedesmal fast den eigenen Atem.

Wiederum habe ich “Coupe au Kirsch“ mitgebracht. Mutter freut sich darüber und geniesst beinahe die halbe Portion. Jeder Schluck braucht Zeit. 
Aus der Zeitung aus dem Bergdorf lese ich ihr ein paar Titel vor und die Todesanzeige der Apothekersfrau aus Mutters Generation. Zusammen erinnern wir uns: Mein neugeborener Bruder verweigerte das Trinken mit der Schoppenflasche. Der Apotheker und seine Frau mussten an einem Sonntag — step by step — ihr gesamtes Nuggi-Depot unserem immer wieder vorsprechenden Vater aushändigen, bis schliesslich einer dem jungen Erdenbürger in den Mund gepasst hatte.  

Weil die Haut an den Druckstellen der Socken schmerzt, creme ich die Stellen ein, was I. offensichtlich sofort Erleichterung bringt.

Dazwischen hören wir vom Personal, dass offenbar schon wieder jemand aufgrund von angeblich abstrusen Bagatellvorwürfen eine schriftliche Verwarnung von der Heimleitung erhalten habe. Scheint hier immer noch ein alltägliches Führungsmittel zu sein.

“Würdest Du bitte noch fertig packen?“ “Mami, wir haben schon letzte Woche gepackt.“ “Auch die Toilettensachen und Kosmetikartikel?“ “Ja, alles ist gepackt und bereit, Du musst Dir keine Sorgen machen!“ “Danke!  Ich bin so froh, dass ich Dich habe!“

Mutter ist müde und möchte schlafen, bittet mich aber, noch eine Weile hier zu bleiben. Während ich am Bett sitze, scheint sie zu dösen. “Habe ich Dir eigentlich schon gesagt, dass ich Dich gern habe?“ flüstert sie unvermutet. — Ich weiss gar nicht, was ich sagen soll.... “Schon sehr lange nicht mehr...“ schliesslich meine ehrliche Antwort. 
Ich mag mich nicht mehr daran erinnern, wann Mutter mir gesagt hätte, dass sie mich liebt. Es muss viele Jahrzehnte her sein. 
“Dann ist es höchste Zeit, es Dir zu sagen: Ich habe Dich lieb und bin froh, dass ich Dich habe!“ — Ich bin baff. — “Danke, das tut gut zu hören...“ antworte ich höflich, obwohl ich merke, dass ich ihr nicht glauben kann. 
Nach einer Weile: “Wie lange musst Du für die Rückfahrt rechnen?“ “Jetzt, in der Rushhour, etwa 1 ¼ Std.“ — “Fahr vorsichtig und pass uuf!“ “Vergiss Dein Hündli nicht!“  “Du musst zu Dir und zum Hündli Sorge tragen!“ — “Denke immer daran, dass ich Dich lieb habe!“ 

Meine Seele fährt Achterbahn.

Berührt und im Zwiespalt meiner Gefühle nehme ich den Heimweg unter die Räder.