12.4.2014
Neun Tage sind vergangen seit meinem letzten Besuch. Heute bin
ich um 15:45 Uhr, also zur Zvierizeit, angekommen. Mutter liegt wie letztes Mal
angezogen im Bett. Offenbar steht sie jetzt regelmässig am Vormittag auf, um ihr Mittagessen im
Rollstuhl einzunehmen. Sie hat Durst und trinkt 100 ml Rivella mit dem Röhrchen, das sie selber halten
kann. In der Trinkmengenkontrolle sehe ich, dass ihr letztmals um 13 Uhr etwas
zu Trinken angeboten worden ist. Eine lange Zeit des durstigen Wartens, dünkt mich, bedenkt man, dass
krankheitshalber nicht mehr als drei, höchstens
vier Schlücke aufs Mal möglich
sind.
Mutter offeriert mir Kaffeegutscheine und bittet mich, für sie auch etwas aus der
Cafeteria mitzubringen. Zum Trinken möchte
sie weder Schwarztee (Tradition), noch heisse Schokolade (weiterer Favorit),
sondern einen Kaffee mit zwei Zuckern. Glücklicherweise
gibt es heute Erdbeertörtchen;
die Füllung lässt sich gut mit der Gabel zerdrücken, so dass Mutter die Häppchen relativ gut schlucken
kann. Nach gut der Hälfte
hat sie genug gegessen. Zum Kaffee muss ich I. überreden;
erst nach mehreren Versuchen nimmt sie zwei Schlücke. Immer wieder erklärt sie, dass sie schon eine
grosse Menge an heisser Schokolade getrunken habe. In der Trinkmengenkontrolle
ist davon nichts festgehalten.
Auch heute ist Mutter körperlich
aktiv, versucht mehrmals, sich aufzurichten und will einen Trinkbecher vom
imaginären Tisch fassen.
Immer wieder staune ich, wie sich Mutters Gesicht verändert. Heute fallen mir
besonders die Anzeichen auf, die den Flüssigkeitsmangel
anzeigen. So wundert es mich nicht, dass ich später
von der FaGe dazu angehalten werde, auch den wenigen Kaffee (ca
25 ml), einzutragen, weil es auf jeden Milli-Liter ankomme.
In der vergangenen Woche liess Mutter mich anrufen mit der
Bitte, ich solle kommen. Die FaGe versicherte mir am Telefon, dass nichts
Besonderes vorgefallen sei, was aus ihrer Sicht Anlass für mein sofortiges Kommen sein könnte. Aus beruflichen Gründen konnte ich der Bitte nicht
sofort entsprechen. Ausserdem wollte ich auch keine falschen Signale setzen. Und
so liess ich Grüsse
ausrichten und das Versprechen, dass ich sobald als möglich kommen werde. Entgegen meiner Annahme, Vorwürfe zu bekommen, weil ich sie
noch ein paar Tage habe warten lassen, erkundigt sich Mutter bloss, ob ich über ihre Bitte erstaunt gewesen sei. Irgendwie eine heikle Frage. Statt mit ja
oder nein antwortete ich mit der Beschreibung der verschiedenen Tätigkeiten, mit denen meine Woche
ausgefüllt war, was Mutter
befriedigt zur Kenntnis nimmt.
«Was macht das Kätzchen?»
fragt I. unvermittelt. «Ich habe schon lange keine Katze mehr.
Meinst Du T.?» — «Ach
ja… und das Hündlein?» — «Müggli
ist letzten November gestorben.» —
«Oh,
das ist traurig für Dich!
Hast Du keinen neuen?» — «Nein,
bis jetzt nicht. Mir fehlt die Zeit, um mich auch noch um einen Hund zu kümmern.» — «Das ist nicht gut für Dich! Gesünder wäre, wenn Du wieder einen Hund hättest, dann müsstest Du regelmässig an die frische Luft. Das täte Dir gut!»
—
«Ich war bei Familie St. zu Besuch.» — «Bei St.? Der Zeitschriften-Verträgerin?»
kommt mir in den Sinn, als wir vor 55 Jahren in O. wohnten. «Ja,
bei ihrer Tochter.» Irgendwie habe ich so eine vage Erinnerung, dass Mutter
Jahrzehnte später in Z. diese
Tochter getroffen hatte. Der Zusammenhang bleibt unklar. «In
Z. oder in O.?» versuche ich eine Klärung.
«In
O., an jener Strasse, wo die Treppe hinaufführt.»
Die Beschreibung der Örtlichkeit
stimmt. «Ah
ja? Was hast Du dort gemacht?» —
«Wir
haben Kaffee getrunken. Aber ihr Mann hat kein Wort gesprochen, obwohl er früher immer lustig und freundlich
gewesen war. Diesmal sass er da, wie ein Mehlsack. Nur zum Schluss sagte er, es
sei nett gewesen.» ... «O.
hat ein schönes Pflegeheim,
dorthin möchte ich!» —
«Meinst
Du oben das B.?» will ich wissen. «Nein, nicht das B. Das Heim ist nicht
oben.»
kontert Mutter bestimmt. «Bist Du sicher, dass Du das Pflegeheim
in O. meinst und nicht das im Bergdorf?» ich habe kurz vorher Mutter einen
Artikel aus der Dorf-Zeitung vorgelesen, der von einer ihrer Schulkolleginnen
handelte. Darum bin ich mir sicher, dass Mutter das Bergdorf meinte. «Ja,
klar, das Neue.» — «Aha.» — «Dort will ich hin, dort ist es schöner, als es hier ist.»
— «Da musst Du Dich
noch etwas gedulden, das wird frühestens
im Oktober fertig sein. Wie denkst Du denn, dass Du diese lange Reise mit den
vielen Kurven und dem grossen Höhenunterschied
bewältigen wirst? In der
Vergangenheit hatte Dir die Höhenlage
ja nicht mehr gut bekommen.» (Mutter war letztmals vor ca. 20
Jahren im Bergdorf und dabei wurde sie bei jedem Besuch krank.) «Das
ist doch keine Sache! Das können
andere auch, also kann ich das auch! Sonst machen wir halt zwei Tage.»
Dann kommt Mutter auf ihren Anruf zurück und erklärt,
dass sie es einfach nicht mehr ausgehalten habe hier. Und dass auch ihr Mann R.
nie habe ins Heim ziehen wollen. Weil es andere so gewollt hätten, habe er sich nicht zu
wehren getraut, obwohl sie dies einander versprochen hätten, und nur darum sei sie jetzt auch da. «Auf
die Männer ist kein
Verlass!»
so ihr Fazit. Hier müsse
sie jede Nacht im Wald schlafen, wo man sie einfach irgendwo abstelle. Seit
vielen Monaten erzählt
Mutter immer wieder, sie habe im Wald schlafen müssen
und Angst gehabt. Bis heute habe ich leider noch nicht herausgefunden, welche
Verknüpfung dahinter
verborgen ist.
Als die FaGe mit Medikamenten kommt, verabschiede ich mich. «Chumm
guet hei und heb dr Sorg!» ermahnt sie mich. Ich verspreche
beides und auch, dass ich wiederkomme.
Ein weiterer Kurs aus dem Praxis-Seminar «Angewandte
Quantenphysik — Die Gleichzeitigkeit des Seins» ist absolviert.
Mein «Danke für
alles!»
an die Pflegefachfrau rührt
diese zu Tränen, weil es
seit dem unrühmlichen Eclat
2012 nicht mehr oft vorkomme, dass sich Angehörige
bedanken würden… Damals stellte der Vorstand die
sehr beliebte und äusserst
kompetente Heimleiterin eines Morgens überraschend
und ohne weitere Erklärung
frei, ohne dass diese sich hätte
verabschieden dürfen, was
allenthalben einen tiefen Schock ausgelöst
hatte.
Seither haben wir ziemlich «strube» Zeiten erlebt und ich kann nicht
behaupten, dass es bis jetzt viel besser geworden wäre. Einem Vergleich mit dem Damals hält das Heute auf keiner Ebene
stand.